Klimakultur 2024 revisited: Wir blicken zurück auf ein Jahr voller Verflechtungen – auf spannende, vielseitige Blogbeiträge, auf freudigen Austausch bei den vier „Treffpunkten Klimakultur“, auf einen Gastvortrag und zahlreiche Formate im Rahmen der „Tage der Klimakultur“.
Wir verflechten uns weiter
„Ich träume von einer anderen Sprache. Einer gelatinösen Quallensprache, die sich ihrer Verantwortung bewusst ist, aber dort nicht aufhört.“ ― Gamillscheg, S. 87
Der äußerst lesenswerte Text „Ich träume von einer Quallensprache“ ist dieses Jahr in der Publikation Fokus Klima, herausgegeben vom BMKÖS, erschienen. Darin denkt die Autorin Marie Gamillscheg darüber nach, wie wir über die Natur sprechen, aber auch über die Machtstrukturen hinter dieser verwendeten Sprache. Patriarchale Denkmuster ziehen sich so tief durch unsere Sprache, dass es nicht verwunderlich erscheinen mag, dass wir uns auch auf sprachlicher Ebene von einer gleichberechtigten Beziehung zu unserer Umwelt distanziert haben: „Der Mensch ängstigt sich vor dem Unkontrollierbaren. Vor dem Werden. Seine eigene körperliche Unterlegenheit gleicht er mit sprachlicher Dominanz aus.“ (S. 87) Gamillscheg erklärt dies eindrücklich anhand der Meerwalnuss, einer invasiven Rippenqualle (1). Wir nennen sie invasiv, so als würde sie in gewaltvoll-militärischer Manier vordringen in europäische Gewässer, in „unsere“ Gewässer. Indem wir so ein Wort verwenden, lenken wir aber geschickt von der eigenen Verantwortung ab – ganz so, als wäre es nicht der Mensch selbst gewesen, die die Meerwalnuss mit Schiffen in fremde Gebiete gebracht hat.
Sprache schafft Realität. Dieser Verantwortung sind wir uns bewusst, und – um es mit Marie Gamillscheg auszudrücken – dort wollen wir nicht aufhören.
In unserer Arbeit treibt uns eine wesentliche Zutat an: die Vorstellungskraft. Die Lösungen im Kampf gegen die Klimakrise gibt es bereits – wir wollen dazu beitragen, dass wir uns diese Welt, in der die Lösungen Realität geworden sind, vorstellen können. Auch wir träumen also von einer anderen Sprache – von einer Sprache, mit der wir Veränderung – Wunschbilder der Zukunft – vorstellbar und greifbar machen. Kunst kann hier das Bindeglied sein, um die Beziehung zwischen menschlichen und mehr-als-menschlichen Körpern wieder herzustellen. Kunst und Kultur haben das Potenzial, unserer Vision einer besseren Welt eine Sprache zu verleihen und so tatsächlich neue Zukunftsbilder zu schaffen. Künstler*innen und Kulturakteur*innen leisten somit mehr als nur einen ästhetischen Beitrag zum Klimaschutz. Sie bieten einen Raum, in dem emotionale Resonanz und kritisches Denken zusammenkommen, um zum Handeln zu inspirieren und neue Perspektiven für eine nachhaltigere Zukunft zu entwickeln.
Der Begriff „Quallensprache“ wirkt auch auf anderer Ebene nach und lässt an unseren 7. Treffpunkt Klimakultur zurückdenken: Gemeinsam mit Barbara Gamper haben wir im Rahmen eines Somatic Walk im Schwazer Silberwald unserer Beziehung zur Natur und den Lebewesen um uns herum nachgespürt und tief in unseren Körper hineingehört. Bei einer gemeinsamen Atemübung fühlten wir uns wie Anemonen: Einatmen – Ausatmen (2). „Die Pflanzen als Lungen der Erde und unsere Atmung sind plötzlich ganz nah beieinander“, schreibt Lisa Mazza in ihrem Blogbeitrag Verflechtungen von menschlichen und mehr-als-menschlichen Körpern. Einen weiteren Halt legten wir am Fuße eines kleinen Wasserfalls ein, wo wir – wieder angeleitet durch Barbara Gamper – über unseren Ursprung, das Heranwachsen im Fruchtwasser, über unsere Rolle in der Gesellschaft und anerzogene Geschlechterrollen und Haltungen nachdachten. „Wenn für die Pflanzen der Boden das erste Leben ist, so ist es für den Menschen das Wasser“ (Mazza). Gamillscheg bezeichnet das Wasser in ihrem Text als identitätsstiftendes Moment, was im Kontext unserer Erfahrungen beim Somatic Walk, aber auch in Hinblick auf mehrere Texte in unserem Blog nicht treffender formuliert sein könnte.
Um das Wasser, um menschliche und mehr-als-menschliche Stimmen ging es in diesem Jahr etwa auch im Blogbeitrag Die Rückkehr des Cyborg, in dem Johannes Reisigl das Projekt „Lobau Listening Comprehension“ vorstellte. Dieser titelgebende „Cyborg“ meint die Soundskulptur Gerti, welche handgeformte Tonelemente, Kabel, Platinen und Lautsprecher verbindet (3). Der Begriff „Cyborg“ ist dabei bewusst gewählt, geht er auf die feministische Historikerin Donna Haraway zurück, die in ihrem gleichnamigen, 1985 erschienenen Manifest gegen binäre Kategorien und Dualismen argumentiert: „Diese Dualismen, so Haraway, ermöglichen die fortwährende Ausbeutung von Mensch und Planet“ (Reisigl).
Neben der Luft und dem Wasser spielte auch der Boden eine elementare Rolle in unserem Blog. Schon im Jahr zuvor plädierte Johannes Reisigl dafür, dem Boden zuzuhören. Dieses Jahr führte der Weg nicht nur beim Somatic Walk in den Wald: Auch Ivona Jelčić näherte sich dem Lebensraum in ihrem Beitrag Das Problem an der Wurzel packen, für welchen sie die Ausstellung „Into the Woods“ im Rahmen der Klima Biennale Wien besuchte. Letztlich geht es auch hier um unser eigenes Verflochtensein mit der Natur und die Frage, ob wir in der Lage sind, „uns selbst als Teil ökologischer Systeme und nicht als Herrscher*innen über die Natur zu begreifen. Gerade das Ökosystem Wald taugt diesbezüglich als Vorbild“ (Jelčić)(4).
Am Boden fanden wir uns schließlich auch im Zuge einer anderen Biennale ein, nämlich als wir uns im Hofgarten trafen, um mit Kuratorin Franziska Heubacher über die Kunstbiennale INNSBRUCK INTERNATIONAL und die (Vermittlerinnen-)Rolle der Kunst in Zeiten der Klimakrise zu sprechen (5). Barbara Unterthurner hielt in Balancieren zwischen Kunst und Klima angesichts der beim 6. Treffpunkt besprochenen Installation EQUILIBRIUM – eine mit einem Zitat aus dem Internationalen Klimareport 2019 bestickten, über eine Tiroler Buche gespannte Slackline – warnend fest: „Das Gleichgewicht scheint längst gekippt.“ Muss die Kunst also diese Rolle der Vermittlerin einnehmen, um das Gleichgewicht zwischen Mensch und Mehr-als-Mensch wieder herzustellen, eine Symbiose – eine „Allianz aus Mensch, Kunst, Technik und Natur“ (Unterthurner) zu schmieden?
Textile Allianzen zwischen Patsch und der Welt skizzierte Johannes Reisigl im Text Über den Patscher Leinen (6). Hier näherten wir uns dem Thema Verflechtungen also im handwerklichen Sinne: Der Wunsch nach mehr Autonomie und Wirksamkeit im eigenen Handeln war es, der Stephanie Höcker antrieb. Heute ist sie Flachszüchterin, bietet Workshops an und stellt ihre eigene Mode-Kollektion her, im Geiste von „Slow Fashion“ – was übrigens auch im Sinne des Projektes New Cheap Nature ist, das Esther Pirchner in Kleider, Kunst und Klima vorstellte. Im Vordergrund des Kunstprojektes von Richard Schwarz steht die Frage nach dem ideellen Wert von Kleidung. Im dazugehörigen Webshop werden daher auch keine Waren verkauft, sondern Geschichten und Denkanstöße geboten (7).
Zuletzt sticht im eingangs zitierten Text von Marie Gamillscheg der Begriff „Tentakuläres Denken“ hervor, mit dem Donna Haraway (die im Laufe des Jahres übrigens nicht nur in unserem Auftakttext eine wesentliche Rolle spielte) eine „kreative Unruhe“ beschreibt, die immer im Wandel ist, auf der Suche nach Verflechtungen der wissenschaftlichen Disziplinen mit Erzählungen und Fantasie. Eben jene Verknüpfungen wünscht sich auch Kim de l’Horizon im zuletzt erschienenen Blogbeitrag Drag Show mit Baumbart, verbunden mit dem Plädoyer, die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft zu verwischen: „Die Probleme unserer Zeit sind planetenweit und hyperkomplex. Sie halten sich nicht an den Grenzen unserer Disziplinen auf.“
Würde man sich den Begriff „Tentakuläres Denken“ visuell vorstellen, könnte dieses Bild mitunter Ähnlichkeiten zur Installation MYCELIUM aufweisen, eine immersive Multimedia-Installation der Künstler*innen Zosia Hołubowska, Claudia Strate und Joanna Zabielska, deren Struktur und Funktionsweise von einem Pilzsystem inspiriert ist. Im Vordergrund des Projekts steht eine nichtlineare Erzählung über ein Ökosystem, das von Fürsorge und Zusammenarbeit angetrieben wird, und ein dezentrales Netzwerk, das allen Elementen des Waldökosystems Fürsorge und Hilfe bietet (8).
Eingebettet war MYCELIUM in die Abschlussfeierlichkeiten zu unseren erstmals ausgerufenen Tagen der Klimakultur (9). Im Zuge dessen spannten wir ein Netz-Werk von Fiss bis St. Johann – mit vielschichtigem Programm, einen ganzen Monat lang, an zwanzig verschiedenen Veranstaltungsorten in ganz Tirol. Mit diesem stolzen Rückblick wagen wir auch gleich einen hoffnungsfrohen Ausblick: Die „Tage der Klimakultur“ haben heuer ein so schönes Klimakultur-Zeichen gesetzt, dass wir nächstes Jahr daran anknüpfen.
Transalpine Beziehungen wurden dieses Jahr übrigens in schweizerischen Tschlin geknüpft, wo die dritte Rural Commons Assembly stattfand (10). Als „translokale Allianz“ vernetzt die RCA vierzehn Kunst- und Kulturorganisationen aus Österreich, der Schweiz, Liechtenstein und Italien. Auf Einladung von Curdin Tones und seiner Initiative Somalgors74 – und unter seiner Anleitung erfuhren die Teilnehmer*innen der heurigen Assembly nicht nur fürsorgliche und beziehungsstiftende Momente des Gemeinschaffens (Commoning), sondern sprachen auch über die Herausforderungen, mit denen transformative Kulturarbeit oft einhergeht: Überarbeitung, komplexen Beziehungsarbeit mit lokalen Regierungen, Vermittlungs- und Kommunikationshürden.
Herausforderungen ist auch das Stichwort für den Beitrag The Art of Activism – Achtsamkeit im Aktivismus. Nik Neureiter zeigt anhand der gleichnamigen Theaterproduktion auf, wie schwierig es im Aktivismus sein kann, den eigenen Grenzen der Belastbarkeit nachzuspüren und die Selbstfürsorge nicht zu vernachlässigen. „Eine Verbundenheit zu anderen Menschen, die sich für die gleiche Sache einsetzen; und eine Verbundenheit zur Welt, zu einer sinnvollen Koexistenz von Natur und Mensch – das ist das Schöne am Aktivismus.“ (Neureiter)
Um eine auf den ersten Blick ausweglose Situation ging es bereits zu Beginn des Jahres im Rahmen des Forumtheaters JETZT! Das Theater mit der Zukunft. Gemeinsam mit dem Publikum wurden Entscheidungen mit Weitblick getroffen (11). „Voraussetzung dafür sind Begegnungs- und Verhandlungsorte, genau wie sie von allen Beteiligten an diesem Abend geschaffen wurden.“ (Reisigl)
„Wer heutzutage über zwischenmenschliche Beziehungen nachdenkt, muss sich mit dem Verhältnis zwischen Menschen und Natur beschäftigen. Unmöglich scheint es mir, dass die brennenden Wälder und schmelzenden Gletscher keinen Einfluss auf die Art und Weise nehmen, wie wir heutzutage Liebe und Verbindung denken und leben.“ ― Gamillscheg, S. 84
Um wieder auf die Sprache zurückzukommen: Bereits zweimal hat Franzisca Weder, Universitätsprofessorin für Organisations- und Nachhaltigkeitskommunikation an der WU Wien, einen Beitrag für unseren Blog verfasst. In Agents of Change startet sie einen Aufruf an uns alle: Es braucht mehr transformative Kommunikator*innen in der Klimakrise – also Leitfiguren, die mit gutem Beispiel vorangehen. Solche transformativen Akteur*innen sind dann etwa nicht nur Influencer*innen oder Journalist*innen, sondern eben auch Künstler*innen, Schriftsteller*innen, Kurator*innen oder Veranstalter*innen.
Marie Gamillscheg hält am Ende ihres Textes fest, dass zwar auch die Literatur keine einfachen Antworten auf die Klimakrise parat hat: „Doch genau darin liegt ihre Kraft. Sie nimmt mich in Verantwortung. Nicht als Täterin oder Opfer, sondern als Fragenstellende, Suchende, Werdende.“ Was für ein schöner Appell zum Abschluss unseres „Jahres der Verflechtungen“! Lasst uns weiterhin gemeinsam über neue Strukturen des Zusammenlebens nachdenken! Lasst uns Fragenstellende, Suchende, Werdende bleiben!
P.S.: Es ist kein Zufall, dass das letzte Wort im Text „bleiben“ lautet – es leitet direkt zu unserem Jahresthema 2025 über!
Gamillscheg, Marie: Ich träume von einer Quallensprache. In: Fokus Klima, BMKÖS, 2024. S. 82-89.
Gamillscheg, Marie: Aufruhr der Meerestiere. München: Luchterhand, 2022.
Haraway, Donna: Unruhig bleiben. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2018.