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Verflechtungen

„Wir sind alle Flechten.“1

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Flechten, Lichenen, etwa 16.000 Arten umfassende Pflanzengruppe, die durch eine hochentwickelte Symbiose zwischen Pilzen und photoautotrophen Organismen charakterisiert ist. Die Symbionten leben in engem Kontakt miteinander und bilden einen dauerhaften, spezifisch gebauten Thallus, der eine morphologisch-anatomische und physiologische Einheit darstellt.2

„Wir müssen lernen, gesündere Beziehungen herzustellen. Das Wettbewerbssystem von Profit und Akkumulation, Ausbeutung und Unterdrückung hat unsere Beziehungen zu anderen – menschlichen, nicht-menschlichen Lebewesen und dem ganzen Planeten – in erschreckenden Mustern geformt. Die Dringlichkeit besteht darin, diese Muster zu verlernen, allen Formen der Unterdrückung zu widerstehen und für ein ausgeglicheneres Leben auf unserem Planeten zu sorgen. Die Erde ist ein lebendiger Organismus und wir sind nur ein kleiner Teil davon“, sagt die Künstlerin, Aktivistin und Forscherin Daniela Brasil im Gespräch mit Thomas Wolkinger.3

 

Dass sich unser Verhältnis zur Natur ändern muss, steht außer Frage. Wie aber diese Verbundenheit zu unserer Umwelt festigen, an der Schnittstelle zwischen Mensch und mehr-als-Mensch? Genau diese Schnittstellen sind es, die uns bei Klimakultur Tirol besonders interessieren.

 

Als sich die Koordinatorinnen und Kerngruppenmitglieder der Klimakultur Tirol trafen, um das Jahr 2024 zu planen, fiel erstmals die Entscheidung, das Jahresprogramm an ein übergreifendes Thema zu koppeln – ein Thema, das die Ziele der Klimakultur sichtbar nach außen trägt und für uns als „grüner Faden“ die Gestaltung des Programms mitbestimmt. Die Überlegungen, die uns zu dem Jahresthema „Verflechtungen“ bewogen haben, führen wir im Folgenden näher aus.

Mycelien, die verflochtenen Netzwerke aus Pilzfäden, bilden die Grundlage für das Wachstum von Pilzen. Ähnlich verhält es sich mit menschlichen Netzwerken. Individuen, Organisationen und Ideen sind wie die Hyphen des Myzeliums – sie interagieren, kommunizieren und bilden ein komplexes Netzwerk.

In unseren Gesprächen über Verflechtungen und mögliche Auslegungen des Begriffs fielen Konnotationen wie Symbiose, Verbindungen und Lebensgemeinschaft, aber auch Abhängigkeit und Genügsamkeit. Wir tauschten uns über lebensbejahende Konzepte wie Stärke, Resilienz, Kraft und Schönheit aus – ja gar das Leben selbst verbinden wir mit „Verflechtungen“.

 

Die Arbeit von Klimakultur Tirol ist davon geprägt, Menschen an der Schnittstelle von Kunst, Kultur(arbeit) und Klima zusammenzubringen und so Bündnisse zu knüpfen – ein kollaboratives Beziehungsgeflecht also, das in seinem Grundverständnis jedoch weit über menschliche Beziehungen hinausgeht und versucht, einem artenübergreifenden Zusammenleben gerechtzuwerden. Es gilt sichtbar zu machen, was unterschiedliche Lebensformen miteinander bewegen können. Das Schöne am ausgewählten Begriff ist, dass er für uns auf mehreren Ebenen erfahrbar macht, wie wir die komplexen Koexistenzen, die uns umgeben und ausmachen, neu verhandeln und Mikroorganismen, Pflanzen, Tiere und Menschen miteinander verweben können.

Emergenz beschreibt das faszinierende Phänomen, bei dem neue Eigenschaften oder Verhaltensweisen in einem komplexen System entstehen, die nicht direkt aus den Eigenschaften der einzelnen Bestandteile abgeleitet werden können. Es ist das Prinzip, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.

In Donna Haraways Worten, und bezugnehmend auf Lynn Margulis, sind es sympoietische Gefüge („making-with“, „mit-machen“) statt autopoietischer („self-making“, „selbst-organisierend“), die die Grundlage für jeglichen Schaffensprozess bilden: Nichts stellt sich selbst her, jedes System ist an Bedingungen und „andere“ geknüpft und ist somit ein kollektives, lebendiges; und – um auf den eingangs zitierten Scott F. Gilbert zurückzukommen: „Wir waren nie Individuen.“ Das Miteinander, die Schnittstellen – eben die „Verflechtungen“ – sind es, die die Klimakultur Tirol antreiben. Die Verflechtungen finden für uns auf unterschiedlichsten Ebenen statt:

 

Sie bestehen zwischen Mensch und Mensch: Alles ist miteinander verbunden. Die zwischenmenschliche Ebene spornt uns als Klimakultur an, die Gespräche mit Menschen zu suchen, in den Austausch zu kommen, unsere Ideen und Visionen miteinander zu teilen. Sie regt uns dazu an, die Verflechtungen zwischen Stadt und Land stärker zu pflegen, uns quasi über ganz Tirol wie Moos auszubreiten und auch darüber hinaus weiterzuwachsen. Auf zwischenmenschlicher Ebene ist es auch die direkte Zusammenarbeit, das Handwerk, das Flechten selbst, das uns vorschwebt – etwa beim Flechten von Körben, Zöpfen oder Seilen. Gleichzeitig denken wir aber auch an den Filz von festgefahrenen Meinungen, von Blockaden im Denken und politischen Handeln, die eine gerechte Klimapolitik so schleppend voranschreiten lassen – ein Filz, den es dringend zu entflechten bedarf.

 

Im ökologischen Sinne sind es die Verflechtungen zwischen mehr-als-Mensch und mehr-als-Mensch, unterirdisch und oberirdisch, die die Inspiration für unsere zwischenmenschlichen Verbindungen sein sollten: Myzelien, Bäume, – es sind ganze Ökosysteme, die miteinander kommunizieren und uns vorzeigen, wie widerstandsfähig und dynamisch sie sind.

 

Um die Überlegungen abschließend auf die organisatorische Ebene zu heben, verflechten wir uns als Klimakultur Tirol mit anderen Organisationen – im Rahmen unserer Tätigkeiten, damit eine Struktur wachsen kann, die Menschen an der Schnittstelle von Klima, Kunst und Kultur(arbeit) miteinander verbindet.

 

Im Jahresprogramm der Klimakultur Tirol schlagen sich die lokalen, regionalen und überregionalen Verflechtungen schließlich nieder. Einen kleinen Einblick in die geplanten Aktivitäten möchten wir an dieser Stelle schon geben:

Treffpunkte

Der 5. Treffpunkt fand im Januar 2024 im Rahmen der letzten Aufführung des Forumtheater-Projekts „Jetzt! Das Theater mit der Zukunft“ statt. Die Klimakultur Tirol lud dazu ins Haus der Begegnung und freute sich über viele neue Gesichter, die sich das Stück ansahen, mit eigenen Entscheidungen in die Handlung eingriffen und somit Teil der Produktion wurden. Das Vernetzen und Austauschen kamen im Anschluss an die Vorführung nicht zu kurz.

 

Der 6. Treffpunkt dockt am 16.5.2024 an die Kunstbiennale INNSBRUCK INTERNATIONAL an. Im Fokus steht die Installation EQUILIBRIUM des dänischen Künstlers Tue Greenfort, der sich in seiner interdisziplinären Arbeit mit Themen wie dem öffentlichen und privaten Raum, der Natur und Kultur beschäftigt. „Indem er diese Themen mit der Sprache der Kunst verwebt, formuliert er eine vielschichtige Kritik an der heute vorherrschenden wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Produktion“, kündigt die Biennale den Künstler an. Im Gespräch mit der Kuratorin Franziska Heubacher wird u. a. Greenforts Außeninstallation im Hofgarten näher vorgestellt. Diese besteht aus einem großen umgestürzten Baumstamm, der über die gesamte Länge des Baumes mit einem Seil bespannt ist, das mit einem Zitat aus dem ICCP-Klimareport 2022 bestickt wird.

 

Beim 7. Treffpunkt im September geht es dem vielschichtigen Jahresthema getreu in die Natur: Wir laden Interessierte herzlich dazu ein, sich mit uns auf einen Somatic Walk zu begeben. Details geben wir noch bekannt, das Motto „Think like Mycelium“ dürfen wir aber bereits verraten.

 

Der 8. Treffpunkt schließlich nimmt heuer eine spezielle und wichtige Rolle ein: Er hängt mit den für Oktober geplanten „Tagen der Klimakultur“ zusammen. Für den würdigen Abschluss unseres Jahresprogramms und -themas sind eine immersive Multimedia-Installation, eine Fotoausstellung und mehr geplant.

Tage der Klimakultur

Vom 17. bis 20. Oktober 2024 rufen wir die „Tage der Klimakultur“ aus. An ihnen wollen wir kulturell tätige Personen, Einrichtungen, Vereine mit all den Menschen zusammenbringen, die an der Schnittstelle von Kunst, Kultur und Klima interessiert sind. Entstehen soll ein klimakulturelles Programm, gestaltet von in Tirol ansässigen Kulturinitiativen und Künstler*innen – ob ein Korbflechten-Workshop, eine Lesung, ein Filmabend oder Ecological Sound Art, die Möglichkeiten sind unbegrenzt, Ideen sind gefragt, die das Potenzial von Kunst und Kultur voll und ganz ausschöpfen, um Ansätze zur Lösung der Klimakrise zu vermitteln und uns zu inspirieren. Koordination und Bewerbung laufen bei uns zusammen. Die Fotoausstellung, die beim 8. Treffpunkt präsentiert wird, soll all die Projekte und Veranstaltungen dokumentieren, die sich im Laufe des Jahres mit uns und miteinander verflochten haben.

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Klimakultur Tirol möchte ein möglichst fruchtbares Mycel werden und ruft daher Kulturinitiativen in Tirol auf, bei den Tagen der Klimakultur dabei zu sein. Ihr habt klimakulturelle Ideen, die sich von 17.-20. Oktober 2024 in euer Kulturprogramm integrieren lassen? Meldet euch bei uns unter hallo@klimakultur.tirol. Lasst uns verflechten und gemeinsam ein starkes Netzwerk bilden, welches Klimakultur greifbar macht.

Blog

Der Klimakultur-Blog ist seit jeher das Herzstück unserer Arbeit: Er bildet ab, welche Initiativen, Projekte, Menschen und Ideen es in der Alpenregion gibt, die Klimakultur für sich in die Praxis übersetzen und so Wege aufzeigen, wie wir by design – und nicht by disaster – der Klimakrise Lösungen entgegensetzen.

 

Unser Redaktionsplan für 2024 beinhaltet Blogbeiträge, die sich dem Jahresthema aus verschiedenen Blickwinkeln annähern. Neben einer Dokumentation der einzelnen Treffpunkte sollen auch Veranstaltungen wie die Klima Biennale Wien oder alte Kulturtechniken wie das Korbflechten im Blog abgebildet werden. Die bereits erschienenen Beiträge zu Lungomare, #newcheapnature und Achtsamkeit im Aktivismus beleuchten aus wieder ganz anderer Perspektive die menschliche und ökologische Verwobenheit.

 

 

Vieles ist geplant – vieles schwebt uns vor – wir freuen uns sehr auf die kommenden Monate und das Verflechten mit euch!

Lektüre

Zitierte Werke und Empfehlungen:

∙ Akomolafe, Bayo: alles 😊
∙ Gilbert, Scott F. et al.: A Symbiotic Way of Life: We Have Never Been Individuals. 2012.
∙ Haraway, Donna J.: Unruhig bleiben – Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. 2016. (und alle anderen Werke)
∙ Latour, Bruno: alles 😊
∙ Lurz, Birgit et al.: Playbook Klimakultur, speziell Kapitel “Verflechtungen”. 2021.
∙ Mazza, Lisa et al.: More-than-Human. 2020.
∙ Ostendorf-Rodríguez, Yasmine: Let’s Become Fungal! Mycelium Teachings and the Arts. 2023.
∙ Tsing, Anna: Der Pilz am Ende der Welt – Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. 2018.
∙ Wall-Kimmerer, Robin: Geflochtenes Süßgras, 2021. Das Sammeln von Moos – Eine Geschichte von Natur und Kultur, 2022.

Quellen

 

1 “For animals, as well as plants, there have never been individuals. This new paradigm for biology asks new questions and seeks new relationships among the different living entities on Earth. We are all lichens.” Gilbert, S. 336

2 https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/flechten/24819

3 Playbook Klimakultur, S. 103

© Wyxina Tresse, unsplash