Inspirieren

Bleiben mit Zukunft – ein Jahresrückblick

„Die Freiheit zu bleiben ist alles andere als selbstverständlich in Zeiten der Klimakrise.“

Mit diesem Satz hat meine Kollegin Lisa Prazeller unseren ersten Blogbeitrag in diesem Jahr eröffnet. In Vom Bleibendürfen und Bleibenlassen hat sie über den Begriff „Bleibefreiheit“ nachgedacht, den die Philosophin Eva von Redecker in ihrem gleichnamigen Buch geprägt hat. 

 

Wir haben diesen Begriff als unser Jahresthema gewählt – und so 2025 Fragen von Zugehörigkeit, ökologischer Verantwortung und sozialer Gerechtigkeit verhandelt; Fragen, die sich quasi als „grüner Faden“ durch unsere Formate und Aktivitäten gezogen haben: Was darf bleiben — im Sinne von Arten, Natur, Menschen? Wer darf bleiben — an sicheren Orten, in unsicheren Zeiten? Und was müssen wir aufgeben, um überhaupt bleiben zu können?  

„Bleibefreiheit“ mehrdimensional gedacht

Auf ökologischer Ebene machten wir uns über Pflanzen, Arten und Ökosysteme und deren Recht auf Erhalt und Zukunft Gedanken. Dies haben wir im Blog etwa in den Beiträgen Ist das essbar oder kann das weg? und Überbleiben – Vom Tun und Seinlassen aufgegriffen. Persönlich konnten wir uns bei unseren drei Treffpunkten zum Thema austauschen. 

 

Sozial und kulturell betrachtet haben wir uns dem Recht von Menschen und Gemeinschaften auf Zugehörigkeit, Stabilität und kulturelle Räume gewidmet. Besonders deutlich wurde dies etwa bei unserem 9. Treffpunkt Klimakultur, bei dem wir uns über solidarisches Landwirtschaften und Klimafürsorge unterhalten haben, nachzulesen im Beitrag Wie schmeckt Solidarität?

 

Im Kontext einer räumlichen Dimension haben wir das „Recht auf Raum“ – also Themen wie Boden, öffentlicher Raum, Zugang, Aufenthaltsmöglichkeiten – und zwar nicht nur als Ressource, sondern als soziales und kulturelles Gut, diskutiert; wie etwa im Text Ein Grund zum Bleiben am GRUND1535 in Rietz. 

 

In all diese Überlegungen floss am Ende auch eine politische und ethische Perspektive, nämlich als eine Aufforderung, kapitalistische, konsumorientierte Denkmuster zu hinterfragen und eine neue Haltung einzunehmen: Weniger konsumieren, mehr bleiben, bewahren, gestalten, verantworten. 

 

Kunst und Kultur können all diese Ebenen miteinander verflechten und als Vermittlungs-, Reflexions- und Praxisraum zugleich dienen – sie verbinden, emotionalisieren und machen neue Formen des Zusammenlebens sichtbar – und ermöglichen es uns, Fragen wie „Wer darf bleiben?“, „Was muss erhalten werden?“ oder „Wie sieht eine lebenswerte Zukunft aus?“ in sinnliche, gemeinschaftliche Formen zu übersetzen. 

Treffpunkte: Klimakultur erlebbar machen

Mit unseren Treffpunkten versuchten wir in diesem Jahr, solche sinnlichen, gemeinschaftlichen Formen zu erschaffen, etwa im April im Kunstpavillon, wo uns Gesprächsteilnehmerin Regula Imhof die letzten (duftenden!) Lageräpfel ihrer Ernte für eine kleine, feine Verkostung mitgebracht hatte. Im Rahmen der Ausstellung „Tipping Point Phantoms“ war dort eine filmische Installation von Vik Bayer zu sehen, in der sich Vik mit solidarischer Landwirtschaft in Sizilien beschäftigt. Oder im Dezember im Botanischen Garten, wo die Künstlerin und Illustratorin Melanie Gandyra die Workshop-Teilnehmenden auf eine visuelle Reise durch Stängel, Blüten und Blattwerk ins Tropenhaus mitnahm – dazu weiter unten mehr. 

 

Generell wollen wir über unsere partizipativen, öffentlichen Formate (Webinare, Treffpunkte, Workshops – versammelt auf unserer Website unter Mitmachen) Klimathemen noch stärker innerhalb der Gesellschaft im Allgemeinen und der Kulturszene im Besonderen verankern. So haben wir heuer „Bleibefreiheit“ nicht nur theoretisch gedacht, sondern in realen Aktionen und Netzwerken erlebbar gemacht, etwa als wir uns Anfang Juli bei Kunstbühel+ über Herausforderungen einer Landwirtschaft im Wandel und Literatur als Werkzeug für gute Veränderung unterhalten haben. 

31 Tage der Klimakultur

Der Höhepunkt klimakultureller Formate waren auch heuer die landesweiten Tage der Klimakultur im Oktober – eine stolze Anzahl von knapp 50 Veranstaltungen in ganz Tirol, von Ausstellungen, Theater, Film, Workshops bis hin zum Klimadinner, Radlkino und Erzählcafé. Sie alle haben verdeutlicht, welches Potenzial entfaltet werden kann, wenn wir Kunst, Kultur und Klima miteinander verknüpfen. Die beeindruckende Sammlung an Veranstaltungen haben wir auf unserer Landkarte sichtbar gemacht. Der Dank dafür gebührt all den Kulturinitiativen, -vereinen und Künstler*innen, die dieses wertvolle Programm gestaltet haben.  

Blog: Bleibefreiheit weitergedacht

Unter „Inspirieren“ haben wir auch heuer zahlreiche Beiträge veröffentlicht, die Klimakultur vor den Vorhang holen. Sie alle haben in irgendeiner Form das Thema „Bleibefreiheit“ aufgegriffen. Ein paar Highlights: 

 

  • Entfremdung und Empathie: In diesem Essay ruft Nicola Weber dazu auf, alte Denkmuster gegenüber Natur und Gesellschaft zu überdenken und eine neue Beziehung zur Natur zuzulassen. Das impliziert, dass wir auch Begriffe wie Festhalten und Bleiben überdenken – und damit Bleibefreiheit als relationales, empathisches Prinzip. 
  • Echo of the Cracks: Katharina Briksi schreibt hier über die gemeinsame Ausstellung mit Christina Burger. Die gezeigten Arbeiten setzen sich mit öffentlichem Raum, Urbanität, Bodenversiegelung, Verdrängung und dem Recht auf Rasten und Bleiben im städtischen Raum auseinander. Damit wird Bleibefreiheit auf urbane Raumstrukturen und soziale Räume übertragen. 
  • Die Zeichen zerbrechen, und sind nicht mehr sicher – Über Sprache in sich wandelnden Landschaften schreibt Juri Velt in diesem Text. Durch den Klimawandel verändern sich unsere Landschaften. Doch haben wir eine Sprache zur Hand, um diese Veränderungen in der Natur wahrzunehmen und benennen zu können?
  • Nicht zuletzt: Gekommen, um zu bleiben – ein Interview über Prekarität, Commons und den Wert des Bleibens, womit zusätzlich eine ökonomische und soziale Dimension unseres Jahresthemas thematisiert wird.  

Rückschau: 11. Treffpunkt Klimakultur

Besonders stark haben wir heuer die Verbindung zwischen Naturschutz, Biodiversität und künstlerischer Darstellung miteinander verwoben. Einen krönenden Abschluss fand diese inhaltliche Auseinandersetzung bei unserem 11. Treffpunkt Klimakultur am 5.12. im Botanischen Garten Innsbruck. „Hold me tight“ haben wir unsere Veranstaltung genannt – eine Anspielung auf unseren Umgang mit Zimmerpflanzen, der im Kern ein sehr fürsorglicher, sich kümmernder ist. Wir haben uns gefragt: Woher kommt diese „Faszination Zimmergrün“, also unsere Vorliebe für vorwiegend exotische Pflanzen?  

 

Den Beginn des Programmes machte Melanie Gandyra. Die Künstlerin und Illustratorin leitete die Workshop-Teilnehmenden dazu an, im üppig Grünen zu verweilen, durchs Tropenhaus zu schlendern und mit Buntstiften aufs Papier zu bringen, wo der eigene Blick hängenblieb. Wir achteten auf Formen, Farben und Blattstruktur, während im Gewächshaus nichts als eine beruhigend vor sich hin plätschernde Wasserversorgung zu hören war. Im nächsten Schritt wurde ein weiteres Papier grundiert – mit Pinseln, Rollen, Kreiden und Stiften entstanden bunt-strukturierte Farbwelten. Am Ende kamen Skalpell und Klebstift zum Einsatz: Die im Tropenhaus angefertigten Skizzen dienten als Inspiration, um die Formen nun aufs grundierte Papier zu übertragen, auszuschneiden und neu angeordnet aufzukleben. Das Denken in Bildern und mit den Händen fungierte für uns als aktivierender Zugang, um die eigene Beziehung zur Natur wahrzunehmen und vielleicht neu zu denken. Die dabei entstandenen Kunstwerke können sich jedenfalls sehen lassen! 

 

Nicht nur im Workshop haben wir eine visuelle Sprache, die ein Bewusstsein für das „Kleine und Zerbrechliche“ schafft, hervorgehoben. Auch unsere Vortragende Julia Löffler, Künstlerin und Kommunikationsdesignerin aus Hamburg, zeigte eindrucksvoll ein Auge fürs Detail. Ihre visuelle Sprache sind Fotos – in ihrem Buch Exotic Plant Hunters stellt sie Schwarz-Weiß-Fotografien aus der Zeit um 1900 ihren modernen Gegenstücken gegenüber: Fotomaterial von sogenannten “Plant Parents” oder “Plantfluencern”, entdeckt auf Social Media. Diese fotografische Recherche zeigt die koloniale Tradition auf, die durch Ausbeutung und Verschiffen von tropischen Pflanzen den Grundstein für einen solchen modernen Lebensstil im Sinne eines “Urban Jungle” legte: “Exotische” Pflanzen als Statussymbol, als dekoratives Grün, das als beliebte Fotorequisite damals wie heute dient. Darüber – und über unsere heimischen Pflanzen, vor allem die bedrohten – sprachen wir abschließend mit Michael Ruech, der über 40 Jahre lang als Gärtner im Tropenhaus gearbeitet hat und uns an seinem Erfahrungsschatz teilhaben ließ.

 

Den perfekten Einstieg in den Abend lieferte uns übrigens der 10-minütige Kurzfilm What does it take? (to win your love for me) des costa-ricanischen Künstlers Sergio Rojas Chaves. Sein Film ist quasi ein Liebesbrief an die Monstera deliciosa. Im Regenwald Costa Ricas lernte er sie als riesige Dschungelbewohnerin kennen, als “Tigerhand” – und war umso überraschter, als er nach seinem Umzug nach Westeuropa erkannte, dass die domestizierte Version der Monstera hier im Topf im Einrichtungshaus gekauft werden kann. Mit der Monstera in den Händen sehen wir ihn durch eine europäische Stadt spazieren, während er über Kindheitserinnerungen, Heimweh und Isolation nachdenkt und sich fragt, wie der Hype um die sogenannten “Plantparents” entstanden ist. 

Ich glaube, wir lernen und benutzen manchmal die wissenschaftliche Sprache, um zu zeigen, dass wir uns kümmern. Dabei vergessen wir, dass Monstera Deliciosa, ähnlich wie Mano de Tigre oder Swiss Cheese Plant, ein Name ist, der dir von europäischen Naturforschern gegeben wurde, als sie ihre neuen Territorien katalogisierten. Ein Etikett, das auf Ihrem Aussehen basiert. Leckeres Monster.” 

― Sergio Rojas Chaves

Stichwort lecker: Wir bedanken uns abschließend beim Il Corvo für die Verpflegung und bei Anna Rogler für die wunderbaren Fotos, die den Tag einfangen. 

 

Was vom Klimakultur-Jahr 2025 bleibt: Unzählige wertvolle Eindrücke, viele neue Ideen und Netzwerke, die zeigen, wie vielfältig klimakulturelle Praxis gelebt wird, inspirierende Begegnungen zwischen Initiativen, Künstler*innen und Engagierten aus ganz Tirol, und die Gewissheit, dass klimakulturelles Engagement einen bleibenden Eindruck im kulturellen Leben Tirols hinterlässt. Wir freuen uns auf 2026! 

Workshop mit Melanie Gandyra © Anna Rogler

Skizzen werden angefertigt © Anna Rogler

Grundieren © Anna Rogler

Kurzfilm "What does it take? (to win your love for me)" des costa-ricanischen Künstlers Sergio Rojas Chaves und Julia Löffler, die ihr Buch "Exotic Plant Hunters" präsentiert © Anna Rogler

Diskussion mit Michael Ruech, Barbara Alt, Julia Löffler, Lisa Prazeller © Anna Rogler

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