Es beginnt mit einem einmaligen Flug durch den feuchtwarmen Frühlingshimmel – dem Hochzeitsflug.
Sich der Flügel entledigen
Aus unterschiedlichen Völkern von Waldameisen steigen geflügelte Jungköniginnen und Männchen in die Luft empor. Sie schwärmen zu gut auffindbaren Geländepunkten, treffen sich über sonnigen Lichtungen, an Waldrändern, auf grasbewachsenen Hügeln oder an freistehenden Bäumen. Mitten im Flug oder gemeinsam zu Boden fallend vollziehen sie den Paarungsakt mit einem oder mehreren Individuen; dann trennen sich ihre Wege. Die Männchen sterben. Die begatteten Jungköniginnen aber vollziehen eine ebenso radikale wie folgenreiche Geste: Sie reißen sich selbst die Flügel ab.
Die Entledigung der Flügel besiegelt ihre neue Rolle: Sie werden Königinnen eines Staates – sesshafte Königinnen. Mit dem Abwurf der Flügel verzichten sie ein für alle Mal auf die Fähigkeit, zu fliegen. Sie geben Mobilität und Weite auf. Stattdessen beginnen sie, sich an einen Ort zu binden – und in dieser Bindung die Grundlage für ein zukünftiges Volk zu schaffen.
Einige Jungköniginnen der Waldameise gründen ihren neuen Staat allein, andere schließen sich bestehenden Nestern an. Kaum ist der Platz gewählt, beginnt ein Leben, das untrennbar mit diesem Fleckchen Erde verbunden ist. Die Umgebung beeinflusst maßgeblich die Entwicklung des zukünftigen Staates und muss folgende Anforderungen erfüllen: ein sonniger bis halbschattiger Platz, Bäume mit Rindenlauskolonien in erreichbarer Nähe, ein ausreichendes Angebot an Beuteinsekten sowie Zugang zu geeignetem Baumaterial für das Nest.
Ameisen sind Meisterinnen der Anpassung, aber hiesige Ameisenarten sind aufgrund von klimatischen Bedingungen auf eine feste und dauerhafte Bleibe angewiesen. Sie benötigen das feuchtwarme Klima des Nestinneren zum Überleben und zur Aufzucht ihres Nachwuchses. Auch die Überwinterung des gesamten Volkes ist nur durch das relativ warme und geschützte Nestinnere möglich. Erst aufgrund ihres ausgeklügelten Nestsystems können hiesige Ameisen, im Gegensatz zu ihren nahen Verwandten, den Wespen, mehrjährige Staaten gründen.
Der Bau eines Nestes ist ein gigantisches, arbeitsteiliges Bauvorhaben: Hunderte, oft tausende Arbeiterinnen sind daran beteiligt, wenn mit regionalen Materialien wie Nadeln, kleinen Zweigen und Erde eine Kuppel errichtet wird. Im Zentrum liegt häufig ein Baumstumpf, der zusätzliche Stabilität bietet. Unter und innerhalb der Kuppel verzweigt sich ein weitläufiges System aus Gängen und Kammern tief in den Boden. Hier finden Arbeiterinnen, Nachwuchs und Königinnen Unterschlupf in einem gut regulierten Mikroklima, außerdem entsteht Raum für Vorräte.
Kaum verwunderlich, dass bei solch einem enormen Bauaufwand die Behausung auf Dauerhaftigkeit angelegt wird, nur in Notfällen ziehen die Ameisen aus, um ein neues Nest zu bauen. Große, günstig gelegene Ameisenhügel können über Jahre oder Jahrzehnte bestehen. Sie sind langsam gewachsen und eingebettet in eine spezifische Umgebung, die bestimmte Erfordernisse und Vorgaben an die Arbeiterinnen und das Nestbauprojekt stellt.
Die Königin verbleibt tief im Zentrum des Staates – verborgen, behütet, einzig der Fortpflanzung gewidmet. Ihre Töchter, die flügellosen Arbeiterinnen, übernehmen alle weiteren Aufgaben: Die jungen Arbeiterinnen bleiben zunächst im Nest, säubern es, umsorgen Larven, Puppen und natürlich die Königin. Erst wenn sie älter werden, zieht es sie in die Welt hinaus – unterschiedliche Wege und Aufgaben warten auf sie: Sie beschützen das Nest und ihre Genossinnen, halten Ausschau nach Gefahren, jagen Beuteinsekten, betreiben „Viehzucht“ an Rindenläusen, von denen sie regelmäßig Honigtau ernten und als wertvolle, energiereiche Nahrung ins Nest zurücktragen. Sie beschaffen Baumaterial und erkunden neue Futterquellen.
Obwohl sie theoretisch jede Rolle im Staat übernehmen können, entwickeln Arbeiterinnen interessanterweise deutliche Tätigkeitspräferenzen – und noch auffälliger: Ortspräferenzen.
Einige Arbeiterinnen verlassen das Nest immer in dieselbe Richtung, folgen vertrauten Pfaden und kehren wiederholt zu gleichen Orten und Sammelstellen zurück. Ein Beispiel für dieses Verhalten zeigt sich bei den Lausmelkerinnen: Sie kehren immer wieder zu demselben Baum, Ast und sogar Zweig zurück, um dort Honigtau von Rindenläusen zu sammeln. Warum aber kehrt eine bestimmte Lausmelkerin immer wieder zu exakt demselben Zweig zurück, obwohl andere Zweige vergleichbar wären? Ist es eine Liebe zu bestimmten Weidetieren – oder gar die stille Verbundenheit mit genau diesem einen Ort, verknüpft mit außergewöhnlichen, vielleicht sogar liebevollen Erinnerungen? Ist es nur Effizienz? Ein erlernter Pfad, eine pragmatische Routine?
Oder geht es um mehr? Das Orientierungssystem der Ameisen verbindet chemische Reize mit visuellen Eindrücken und ortsbezogenem Gedächtnis. Der immer gleiche Weg bietet Stabilität und Beständigkeit, in einer komplexen Umwelt erlaubt er Sicherheit und Orientierung. Doch womöglich ist es mehr als nur Gewohnheit. In ihrem ständigen Wiederkehren, in der beharrlichen Rückkehr zu einem bestimmten Ort, scheint ein Moment der Vertrautheit zu liegen.
Diese tiefe Bindung an einen Ort ist Kern der Lebensweise der Waldameise: Im Gegensatz zu hiesigen Wespen, die weglos durch die Luft fliegen und jedes Jahr neue Staaten und Nester gründen, sind Ameisen langfristig ortsgebunden. Sie entwickeln Kolonien, interagieren mit verschwesterten Nachbarstaaten, pflegen ein dauerhaftes Wegenetz. Mit der Zeit entstehen gut gepflegte und ausgetretene Ameisenstraßen, die oft über Jahre hinweg Bestand haben. Die Pfade und Bauten der Waldameisen graben sich tief ins Erdreich ein, durch Materialumschichtungen, das Säen von Krautpflanzen und Jagd auf Insekten, Würmer und Gliederfüßler, greifen sie aktiv in ihre Umgebung ein, und schaffen so neue Strukturen und Lebensräume in unseren Wäldern.
Was auf individueller Ebene mit einem Flügelbruch beginnt, wird auf kollektiver Ebene zu einer ortsverbundenen Lebensweise. Die Ameisen entscheiden sich nicht für die Freiheit der Bewegung, sondern für die Freiheit des Bleibens. In Eva von Redeckers Begriff der „Bleibefreiheit“ würde man sagen: Sie sind nicht unfrei, weil sie nicht fliegen – sie sind frei, weil sie bleiben dürfen. Das Bleiben ist hier nicht Stillstand, sondern Beziehung. Es ist Pflege des Umfelds und Konstruktion eines gemeinsamen stabilen Lebensraums.
Das Projekt „Transportwesen – ein Infrastrukturprojekt“ kann hier online angesehen und gelesen werden.
Derzeit läuft noch die Ausstellung Inside Out in Buchen oberhalb von Telfs. Dort können die Bilder und Texte des Ameisenprojekts bei einem Kunstrundweg durch den Wald angeschaut werden. Am 13.7. ist die Finnisage der Ausstellung und es wird um 11 Uhr eine Führung und gemeinsame Wanderung auf dem Kunstrundweg geben.
Außerdem läuft gerade Angelika Wischermanns Soloshow auf- und abtragen im Kunstraum Schwaz.