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Ist das essbar oder kann das weg?

Warum nutzen wir nährstoffreiche Wildkräuter nicht, statt sie zu vernichten? Ein Plädoyer für die oft unscheinbaren Pflänzchen, deren Potenzial wir erst zu erkennen beginnen.

Das Wort „Herbizid“ (auf Deutsch ‚Unkraut-Vernichtungsmittel‘) leitet sich von lateinisch herba ‚Kraut‘, ‚Gras‘ und caedere ‚töten‘ ab und umfasst alle Substanzen, die „störende Pflanzen abtöten sollen“, wie gängigen Begriffserklärungen im Internet zu entnehmen ist.

 

Diese Definition von „Un-Kraut“ (per se ein Un-Wort!) suggeriert aber einerseits, dass es einen biologischen Unterschied zwischen Kräutern und Unkräutern gebe, was jedoch falsch ist; andererseits werden manche Pflanzen als „nützlich“ für den Menschen erachtet, während andere offenbar wertlos sind oder (oft auch nur optisch) stören. „Unkraut“ gibt es als botanische Bezeichnung also gar nicht. Vielmehr handelt es sich um wild wachsende Kräuter, von denen es naturgemäß viel mehr als von gezüchteten Kulturpflanzen gibt.

 

Diese Kräuter sind äußerst wertvoll und wichtig – für Boden, Tier und Mensch. Dennoch wurden in Österreich in den letzten Jahren im Schnitt 14.000 Tonnen Pestizide pro Jahr ausgebracht, die Hälfte davon Herbizide, also Unkrautvernichtungsmittel. Die Auswirkungen dieser Gifte nicht nur auf die Pflanzenwelt, sondern auch auf Mensch und Tier, sind verheerend und eine der Hauptursachen für das voranschreitende Artensterben.

 

Dabei sind Wildkräuter oder Beikräuter vielen Kulturpflanzen in Hinblick auf den Gehalt von nährreichen Inhaltsstoffen (Vitaminen, Spurenelementen oder Mineralstoffen) deutlich überlegen. Sie beinhalten außerdem sekundäre Pflanzenstoffe (wie Bitterstoffe, Flavonoide oder ätherische Öle), die entzündungshemmend und vitalisierend wirken können. Die Frage stellt sich also, warum die sogenannten Unkräuter nicht etwa gegessen oder als Futtermittel für Tiere genützt werden, statt sie auszureißen oder gar mit Gift zu besprühen und somit nicht nur die „störenden“ Pflanzen zu töten, sondern auch auf die umliegende Flora und Fauna einzuwirken.

Pflanzenarten schwinden weltweit

Mit dem Bleiberecht der (Wild-)Pflanzen ist es weltweit gesehen in den letzten 50 Jahren kontinuierlich bergab gegangen. Zwar werden von den rund 250.000 bekannten Pflanzenarten immerhin 7.000 Arten genutzt, für die Ernährung der Menschheit spielen davon aber nur ganz wenige eine Rolle.

 

Durch die Industrialisierung hat sich die Nahrungsproduktion weltweit immer mehr angeglichen, sodass die globale Versorgung heute nur noch auf weniger als 100 Nutzpflanzenarten beruht – nur drei davon (Weizen, Reis und Mais) decken heute 50 % des Energiebedarfs aller Menschen. Damit hat sich zwar die globale Versorgung mit energiereichen Lebensmitteln gebessert, doch auf Kosten einer schlechteren Ernährung mit hohen Anteilen von raffinierten Kohlenhydraten, Zucker und Fetten sowie Lebensmitteln tierischen Ursprungs.

 

Anders ist es in abgelegenen ländlichen Regionen etwa des globalen Südens, vor allem bei indigenen Gemeinschaften. Dort spielt eine Vielfalt von Wildpflanzen eine viel größere Rolle für Ernährung und Medizin. Umso dramatischer für deren Ernährungssicherheit ist der signifikante Rückgang von essbaren Wildpflanzen und -pilzen, der in den letzten Jahrzehnten weltweit zu beobachten ist und nicht zuletzt auf Schadstoffeinträge in Boden und Gewässer u.a. durch Dünger und Pestizide zurückgeht, aber auch auf die fortschreitende Zerstörung der natürlichen Lebensräume. Die Ernährungssysteme sind weniger widerstandsfähig gegenüber dem Klimawandel, extremen Wetterereignissen oder Schädlingen, worauf die Agrarindustrie wieder mit mehr Pestiziden, mehr Düngemitteln und mehr Gentechnik reagiert – ein fataler Kreislauf.

 

Österreich gilt für seine Größe als artenreich: Hierzulande gibt es ca. 3.500 Farn- und Blütenpflanzen, allerdings stehen rund 1.300 Arten auf der roten Liste.

Hier dürfen Unkräuter bleiben

Neben großen politischen Initiativen zum Erhalt der Artenvielfalt (wie dem UN-Übereinkommen zur biologischen Vielfalt oder den Weltnaturkonferenzen), sind es vor allem viele lokale und regionale Projekte, die Hoffnung machen, dass mancherorts ein Umdenken stattfindet. Ein wichtiger Ansatz dabei ist es, „Unkraut“ als Ressource wahrzunehmen und zu nutzen.

 

Das zeigen einige Projekte in Österreich, bei denen naturnahe Flächen in die Stadt- und Privatgartenplanung einbezogen werden. Wien ist hier Vorreiter, aber auch in den Ländern gibt es viele gute Initiativen, die zeigen sollen: Unkraut stehen zu lassen fördert die Biodiversität, denn auf einer Pflanze leben etwa 10 Insektenarten. Unkraut kann auch die Bodenqualität verbessern, indem es überdüngtes oder verdichtetes Erdreich wieder auflockert und mit Mineralien anreichert.

 

Und es nützt uns Menschen in der heißen Jahreszeit, denn Vegetation wirkt stark temperatursenkend: Im spanischen Santiago de Compostela hat ein Botaniker festgestellt, dass unkrautbewachsene Steinböden in der Altstadt von Santiago um bis zu 28 Grad kühler waren als die kahlen Steinplatten.1 Denkt man beispielsweise an den Innsbrucker Landhausplatz im Sommer, wäre mehr Vegetation dort bestimmt kein Fehler – sowohl optisch, vor allem aber auch klimatechnisch. Dann würden vielleicht zukünftig auch Schmetterlinge zwischen den Skater*innen durch die Lüfte fliegen.

 

In vielen Parkanlagen in Österreich werden große Flächen nur mehr einmal im Jahr gemäht, Totholz wird als Lebensraum für Insekten und Nager liegengelassen. In Tirol hat die Landes-Umweltanwaltschaft mit dem Projekt Blüten.Reich seit 2017 einen wegweisenden Schritt zur Renaturierung und Begrünung öffentlicher Flächen gemacht und an Straßenrändern und anderen bisher unbegrünten Plätzen artenreiche Wildblumenstreifen geschaffen. Seitdem haben 16 Gemeinden insgesamt 10.000 m2 mit Wildblumen geschmückt.

 

Selbst Unternehmen wie die ASFINAG bepflanzen seit einigen Jahren Böschungen entlang der Autobahn. In Kooperation damit hat die ÖBB 2021 rund 60 Bienenstöcke an mehreren Standorten in Österreich entlang der Gleise angesiedelt, den Nektar für ihren Schienenhonig holten sich die Bienen von den weitreichenden Blühwiesen entlang der Bahnlinie und der Autobahn. Mag sein, dass diese Projekte vor allem imagefördernd sein sollen – sie zeigen aber auch, was möglich ist.

Giersch, Gundermann und Günsel: Fremdwörter oder Heilkräuter vor der Haustüre?

Die meisten von uns kennen zumindest Brennnessel, Löwenzahn oder Klee und wissen vielleicht sogar von deren Heilwirkungen. Andere bei uns häufig vorkommende Wildkräuter wie Franzosenkraut, Gänsefuß, Günsel oder Giersch sind vielen aber schon nicht mehr bekannt, dabei sind sie nicht nur weit verbreitet, sondern zum Teil auch schmackhaft und sehr nährstoffreich.

 

Zugegeben, man muss sich schon ein bisschen auskennen, um die aromatischen von den weniger schmackhaften oder sogar unbekömmlichen Kräutern zu unterscheiden, bei manchen Pflanzen besteht Verwechslungsgefahr und andere sind gar giftig. Das Netz ist aber voll von Bildern und Texten zu unseren heimischen Wildkräutern, es gibt auch einige erschwingliche Pflanzenerkennung-Apps und, wer’s lieber analog hat, ein reiches Angebot an Büchern und auch Workshops ausgewiesener Kräuterexpert*innen.

 

Wer einmal bei Spaziergängen in Wald und Wiese angefangen hat, den oder die kann schon die Sammellust packen. Und es zahlt sich aus, denn offenbar sind viele unserer heimischen, kostenlos zu beziehenden Wildkräuter richtige Powerpakete: So enthält die Vogelmiere doppelt so viel Eisen wie Spinat, die Brennnessel 17-mal mehr Kalzium als Feldsalat und Löwenzahn 10-mal so viel Vitamin C wie Kopfsalat.

Wie wild geht es bei der Ackerbande zu?

Trotz der vielen Vorzüge von Wild- und Beikräutern sei auch gesagt, dass Entscheidungen darüber, welche Kräuter bleiben dürfen und welche nicht, mitunter gar nicht so einfach zu treffen sind. Dies bestätigt Gudrun Pechtl, die Teil des Projektes Ackerbande ist, und Folgendes berichtet:

 

Die Ackerbande ist ein Allmende-Ackerprojekt. Das bedeutet, dass wir alles gemeinsam anbauen und ernten. Schon seit sehr vielen Jahren funktioniert das erstaunlich gut. Inzwischen sind wir sehr geübt darin, den unterschiedlichen Zugängen Raum zu geben und vieles zu lassen, wie es eben entsteht.

 

Das zeigt sich auch ganz besonders im Umgang mit Beikräutern: Es gibt Ackerbereiche, die ziemlich sorgfältig ausgejätet werden, in anderen Streifen geht es recht wild zu. Das hat alle möglichen Gründe, von den Zeitressourcen der für den Teilbereich verantwortlichen Personen bis zu verschiedenen Ackerphilosophien. In unserem Ackermanifest haben wir uns dazu den Grundsatz gegeben, dass einzig darauf geachtet werden sollte, dass die Kulturpflanzen nicht untergehen.

 

Dazu gab es klarerweise auch viele Diskussionen. Wir hatten früher ein Bandenmitglied, das sich ganz besonders für Beikräuter und ihren Wert eingesetzt hat. Eine Lieblingspflanze dabei war die Melde, zweifellos sehr gesund und wie Spinat zu verwenden, aber auch sehr dominant. Das hatte den Effekt, dass wir am Feld Bereiche hatten, in denen es fast nur Ackermelde gab. Ausgebrachtes Saatgut oder auch vorgezogene Pflanzen hatten keine Chance zu wachsen und zu reifen. Dieser Umgang mit Ressourcen erschien uns dann doch ganz verkehrt.

 

Heute hat die Melde zwar weiter ihre Möglichkeiten auf unserem Feld, zum Beispiel in der Brache, die im jeweiligen Jahr nur mit Bienenweide und Düngepflanzen bewachsen ist. Aber dort, wo Gemüse gedeihen soll, nehmen wir sie raus. Ähnlich der Borretsch – eine super Bienenweide und wunderhübsch, aber wenn zu viel davon am Acker wächst, dann werden Giftstoffe an andere Pflanzen weitergegeben. Ein Grund, ihn in Randbereiche zurückzudrängen.

 

Wildkraut ist nicht gleich Wildkraut, stimmt Maria Schmidt (Going Artenreich) zu: „Alles einfach ‚wild wachsen lassen‘ entspricht nicht unserer Philosophie. Denn ohne gezielte Pflege setzen sich meist dominante Arten durch und verdrängen die Vielfalt. Bleibefreiheit gilt also nicht für alle Pflanzen am Naturschutzhof, sondern nur für jene, die ökologisch sinnvoll sind.“ Die Wildkräuter werden am Naturschutzhof in erster Linie den Insekten und Hoftieren überlassen – so ist zum Beispiel die Witwenblume eine wichtige Futterpflanze für die Knautien-Sandbiene, die Wilde Möhre ernährt die Raupen des Schwalbenschwanzes, und die Brennnessel ist für viele Schmetterlingsarten unverzichtbar. „Das Ganze ist jedes Jahr wieder ein experimentelles Annähern an das richtige Maß und den richtigen Zeitpunkt. Schön und vielfältig ist es am Ende immer„, fasst Gudrun Pechtl zusammen.

 

Und in Zukunft? Wildkräuter wie Löwenzahn könnten Mais und Soja als Tierfutter, Fischmehl als Dandelion-Pellets und Tofu als Unkraut-Laibchen ersetzen, denn sie gedeihen ohne Bewässerung und Pestizide, fördern Biodiversität, schonen Böden und bieten Bestäubern Lebensraum – so ließen sich nachhaltigere Synergien (und spannende klimakulturelle Projekte!) schaffen, statt Glyphosat in Tonnen auszubringen.

Quelle

1 „Mit Superkräutern gegen den Hitzestress“, spektrum.de

Löwenzahn und Klee © Anna Greissing

Brennnessel und Ampfer © Anna Greissing

Ackerbande © Andreas Lukanc

Ackerbande © Andreas Lukanc

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