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Gewohntes hinterfragen – ein Rezept für den Wandel im Ernährungssystem

Der Ernährungsrat Innsbruck spricht über ein “gesundes Ernährungssystem für alle”, lädt zum Mitmachen bei praktischen Projekten und treibt durch Bewusstseinsbildung einen Wandel in eine nachhaltige Zukunft voran. Sein Motto: “informieren – austauschen – aktiv werden”.

Tägliche Entscheidungen zu unserem Speiseplan haben nicht nur Einfluss auf unsere körperliche Gesundheit. Wie kann die Versorgung einer Stadt zukunftsfähig funktionieren? Diese Frage stellt der Ernährungsrat Innsbruck an mehrere Sektoren des Systems und will gemeinsam Antworten finden. Was dieser Verein ist und konkret macht, erfahren wir im Gespräch mit der Obfrau Ute Ammering. Sie ist die Mitbegründerin der Initiative, aber auch darüber hinaus als Expertin in Belangen zu unserem Ernährungssystem gefragt. Der Fokus auf eine einzelne Sache sei nicht ihr Spezialgebiet – gut so! Denn für welche Themenvielfalt sie sich im Ernährungsrat einsetzt und was sie persönlich dabei auch noch beschäftigt, habe ich im Gespräch mit ihr herausgefunden.

Die Richtung vorgeben

Die Idee der Ernährungsräte (in diesem Video kurz erklärt) ist keine neue, doch funktionieren die Vereine, die dahinter stehen, unterschiedlich. Anstatt eines Gremiums – wie bei anderen Ernährungsräten – besteht der lokale aus einer Kerngruppe von rund zehn engagierten Bewohner*innen Innsbrucks und Umgebung.

 

Entstanden ist er nach mehreren Treffen im Jahr 2017 von Vertreter*innen aus regionalen Initiativen/Organisationen in Innsbruck (u.a. Feld-Verein, Welthaus, Slow Food, Caritas) und er ist “kein Mitgliederverein”, wie die Obfrau Ute Ammering betont. Es gibt ein Kernteam, das sich regelmäßig trifft und austauscht und sich durch vielseitige Aktivitäten schon einen Namen gemacht hat – zumindest in Innsbruck. Durch seine Projekte und Aktionen (s. unten) bringen sich auch immer wieder neue Personen ein oder nehmen an Veranstaltungen teil. Der Verein ist offen für alle Interessierten und Engagierten, die über den Newsletter über anstehende Aktionen oder Treffen informiert werden – Mitgliedschaften werden keine abgeschlossen.

 

Während ihrem Studium und ihrer Arbeit am Institut für Geographie der Universität Innsbruck hat Ute Ammering bereits viele Organisationen kennengelernt. Eine gemeinsame Linie erkannte sie in deren Engagement gegen den Klimawandel und für globales Bewusstsein zum Thema Ernährung. Möglichkeiten, etwas zu bewegen, sieht sie im Vernetzen und Verbinden gemeinsamer Ideen, Anliegen und Ziele.

 

“Ich hatte das Gefühl, dass viele Gruppen in ihrem jeweiligen Fokus arbeiten und dass jede aber auch ihre blinden Flecken hat. […] Die Gründung des Ernährungsrates lag für alle Beteiligten nahe, und zwar nicht zur Durchführung kleiner Veranstaltungen, sondern zur Governance/zur Steuerung. Also kleine Systeme kooperativ so steuern, dass sie in eine nachhaltige Richtung gehen.“

Austausch miteinander

Bereits bei der ersten Veranstaltung im Herbst 2017 waren Vertreter*innen aus unterschiedlichen Bereichen dabei: aus Produktion/Landwirtschaft, Lebensmittelverarbeitung, Gastronomie, Handel bis zu Konsument*innen. Die Organisationsgruppe wollte die Frage diskutieren, ob ein Ernährungsrat in Innsbruck notwendig ist… Offiziell gegründet wurde nach vielseitiger Zustimmung der Anwesenden im darauffolgenden Februar. Nach einem Gespräch mit dem Bürgermeister der Stadt zur Positionierung des Vereins und mitgebrachten Verbindungen der Gründer*innen gibt es nun auch ein stabiles Netzwerk zu Verwaltung bzw. Politik aus unterschiedlichen Ressorts.

 

“Das Thema Ernährung hat schließlich auch sehr viel mit Stadtplanung und Verkehr bzw. mit Gesundheit und Sozialem zu tun. Wichtig ist aber der Austausch zwischen Zivilgesellschaft und öffentlicher Hand: Ich werde von verschiedenen Personen in Verwaltung und Politik einbezogen, wenn es um Ernährungsthemen geht. Genauso setze ich mich aber auch für zivilgesellschaftliche Anliegen ein, sodass die Politiker*innen wissen, was hier grad ein Thema ist.”

Konkretes Tun

Die Zusammenarbeit mit der Stadt Innsbruck ist auch bei dem Projekt Innsbruck essbar ein zentrales Anliegen. Nachdem ein Aktionspapier (Link zu PDF) mit diversen Expert*innen erstellt und publiziert wurde, entstand ein Pilotprojekt im Waltherpark. Dort wurden erste kleine Hochbeete und ein Bohnentipi aufgestellt und sorgten für viele Rückmeldungen und Unterstützung bei lokal ansässigen Vereinen und Privatpersonen.

 

Im Juni 2020 wurden dann in einem Aktionstag gleich sechs Hochbeete aus alten Paletten gebaut, wobei vier davon im Kaysergarten/Wiesele stehen – einem eher unbelebten, ungenutzten Ort am Flußufer. Zwei Hochbeete gingen auf Initiative von Bewohner*innen in deren Stadtteil nach Pradl, wo die Gartensaison ´21 bereits gemeinsam eröffnet wurde. Derzeit unterstützt Ute Ammering auch bei der neuen Standortsuche für Pflanztröge von einem ausgelaufenen Projekt der Stadt Innsbruck (ehemals Biodivercity-Projekt), damit bestehende Ressourcen von begeisterten Menschen weitergenutzt werden können.

Reden hilft nichts, wenn's am Teller anders aussieht

Ute Ammering möchte möglichst viele Sichtweisen auf das Ernährungssystem miteinbeziehen: „Man kann nicht immer alles auf einzelne Bürger*innen herunterbrechen – eigentlich darf es gar nicht so weit kommen, dass der Konsument/die Konsumentin sich mit 1000 Dingen beschäftigen muss. Es muss so geregelt sein, dass man es gar nicht falsch machen kann. Falsch heißt hier ressourcenschädlich oder nicht nachhaltig.”

 

Die teilweise ganz privaten Geschichten von unterschiedlichen Vertreter*innen aus dem Ernährungssystem wurden auch bei den “Picknick-Gesprächen” 2019 im öffentlichen Raum erzählt. Zu neun Terminen wurden Personen, die mit der Versorgung der Stadt zu tun haben, eingeladen, ihre Projekte vorzustellen und über ihr Tun und ihre Herausforderungen zu erzählen. Neben Vertreter*innen aus Handel, Landwirtschaft oder regionalen Initiativen erinnert sich Ute Ammering an die Worte einer Diätologin in einer Großküche.

“Alte Menschen können Äpfel nicht gut beißen, weiche Bananen hingegen schon, die sind aber eben weniger nachhaltig. An das hab ich gar nicht gedacht… das heißt nicht, dass man nichts ändern kann, aber man versteht Schwierigkeiten und Zusammenhänge in den einzelnen Sektoren besser.”

Von Anbeginn hat sich eine Gruppe des Ernährungsrates mit dem Thema Gemeinschaftsverpflegung auseinandergesetzt und auch hier wird Ute Ammering als Vertreterin des Ernährungsrates als Expertin mit einbezogen. Großes Potenzial zur Veränderung sieht sie in öffentlichen Einrichtungen: “In großen Einheiten findet so viel Bewusstseinsbildung statt – bei der Verpflegung in Kindergärten, Bildungseinrichtungen oder Betriebskantinen… Es hat eine Vorbildwirkung, was dort passiert. Wenn es dort immer Schnitzel mit Pommes gibt, dann prägt uns das.”

Vernetzung als oberstes Gebot

Auch Landwirt*innen sollen näher an Konsument*innen herankommen und sich austauschen, zum Beispiel über direkte Vermarktung. “Landwirt*innen haben sehr vielseitige Herausforderungen zu bewältigen, die Konsument*innen auch kennenlernen müssen. Es gibt aber auch von Seiten der Produzent*innen Vorurteile oder sehr einfache Vorstellungen von ihren Abnehmer*innen.”

 

Dazu bietet der Ernährungsrat auf der Website eine Karte an, die Möglichkeiten zum direkten Bezug von Lebensmitteln in und um Innsbruck auflistet – gestartet mit dem Schwarmwissen der Kerngruppe, Hinweise sind jederzeit willkommen. Auch der verpackungsfreie Supermarkt in Innsbruck wird dort aufgelistet. Denn in der vermeidbaren Verpackung von Lebensmitteln stecken viele Ressourcen.

Ressourcen und Gewohnheit

Weiteres Potential sieht Ute Ammering aber auch in innerstädtischen aufgelassenen Betriebsstätten oder Gärtnereien und in ungenutzten Freiflächen: “Die werden dann leider wieder von einem Immobilienhai aufgekauft. Hier braucht es noch viel mehr Kooperation. […] Vielleicht fehlen – im Vergleich zu Wien – auch die jungen Boku-Abgänger*innen, die neue frische Ideen z. B. für Market Gardening in die Stadt bringen.”

 

Weite Transporte von Lebensmitteln bedeuten auch mehr Verkehrsaufkommen in den Städten, Ausbau von Straßen und Autobahnen, Versiegelung von Flächen als Parkplätze. Wir sind es gewohnt, in großen Supermarkt-Ketten einzukaufen und deren Infrastruktur zu benutzen. Versorgung ist in Städten wohl die größte Verursachung von Verkehr und schadet der CO2-Bilanz. Dabei gibt es auch andere Möglichkeiten des Bezugs von Lebensmitteln in Städten (Solawi, foodcoops, Selbstversorgung in nachbarschaftlichen Netzwerken…), die nur ein kleines Umstellen von Gewohnheiten benötigen.

Klima und Ernährung

Die Klimakrise sei nur ein Teil des globalen Wandels, der uns bevorsteht. “Ich finde es dramatisch, dass erst durch das Klima alle auf die großen globalen Probleme aufmerksam werden. Da geht es auch um Gerechtigkeit, Fairness und ungleiche Verteilung von Chancen, aber auch von Ressourcen. Umweltgerechtigkeit, das heißt Gesundheit, die ungerecht verteilt ist, weil zum Beispiel Zugang zu frischen Lebensmittel unterschiedlich gewährleistet ist.”

 

Wichtig ist es, einen Wandel in die richtige Richtung anzustoßen und Bewusstsein für viele Themen zu schaffen. Wenn man bei den richtigen Stellen ansetzt – so ist Ute Ammering überzeugt – können sich auch gleichzeitig Klima-Problempunkte verbessern. Genau hier knüpft der Ernährungsrat an: Konsument*innen näher an die Produzent*innen zu bringen, Bewusstsein für Herausforderungen UND neue Möglichkeiten zu schaffen, innovative Menschen zu vernetzen und Verantwortung genauso bei Politik und Verwaltung zu fordern.

Wie sieht die Zukunft aus?

“Ernährung hat eigentlich etwas mit Leben zu tun, es nährt – es ist ein Widerspruch, dass Leben Leben zerstört! Wir müssen mehr reale Utopien schaffen – uns an etwas Großem orientieren, aber den Bezug zum hier und jetzt nicht verlieren. Ein Ernährunsgssystem müsste manche Sachen einfach ausschließen – sich immer am Besseren orientieren, dann wäre beispielsweise Bio normal.”

 

Vielleicht geht es auch ums genaue Zuhören. Lassen wir mehr Leute ihre Geschichten und Herausforderungen erzählen und so Zusammenhänge verstehen, um dann getrost alte Traditionen abzulegen und uns für den Wandel bereit zu machen.

Ute Ammering

wurde 1980 in Oberösterreich geboren und studierte in Innsbruck Geographie. In ihrer Forschungstätigkeit beschäftigt sie sich mit globaler Nachhaltigkeit und Ungleichheit, was sie u.a. nach Eritrea und Mosambik führte. Derzeit ist sie mit dem Österreichischen Institut für nachhaltige Entwicklung mit dem Projekt “FeedInn” beschäftigt, sozialökonomische Transformation eines Ernährungsraumes – nämlich Innsbrucks – voranzubringen. Ein Teil dieses Projektes besteht – wie beim Ernährungsrat – aus dem Vernetzen von Stakeholdern, wobei hier mehr finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen als im ehrenamtlich organisierten Verein. Ute Ammering lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Innsbruck.

© Ernährungsrat Innsbruck

Auftaktveranstaltung Gründung Ernährungsrat Innsbruck
© Welthaus Innsbruck

Aktionstag 2019 © Ernährungsrat Innsbruck

© Welthaus Innsbruck

© Luzia Dieringer