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Herr Bert und vom Nackt-im-Wald-leben

Ich bin unzufrieden! Oder?

Jetzt setze ich mich doch so leidenschaftlich und andauernd für unsere Umwelt ein und irgendwie scheints niemanden zu interessieren… so eine Frechheit!

 

Ich bin Mitte, vielleicht auch schon Ende dreißig. Weiblich männlich oder doch männlich weiblich. Ich unterstütze Projekte im globalen Süden, komm aus der Mitte Europas. Kein Veganer, aber bewusster Fleischesser. Verfechter von Analogem und Handgemachtem, dennoch ein Ecosia-User auf einem obstähnlichen Smartphone. Mein Auto schon längst verkauft. Ich fahre nur mehr Öffis oder Rad, außer eventuell eine kleine Spritztour mit dem Motorrad…in die Natur.

 

Manchmal ertappe ich mich im Supermarkt, wie ich vor den großartig gefüllten Regalen stehe und mich für nichts entscheiden kann, weil ja eh alles vom Teufel höchstpersönlich stammt. Ich rege mich auf, wie die harmlos sympathische Dame neben mir in ihren pädagogisch wertvollen Schuhen und Leinenhosen sich ein Glas Nutella neben ihre Bio-Quinoa-Chips stellt und mich dabei fast schon von oben herab anschweigt… ich mein, echt jetzt? Da ist doch Palmöl drin und überhaupt?! Was soll ich da noch überlegen, wie ich die Welt retten kann, wenn sogar die anscheinend Guten sich um nichts scheren?

 

Ein wenig frustriert gehe ich dann mit Brot vom Vortag und ein paar halb verschimmelten Gemüseresten um – 50 % nach Hause. Den Rest bekomme ich schon noch am Samstag auf dem Markt, sollte ich nicht wieder verschlafen, weil ich am Vorabend auf einem Streaming-Portal zu viele Dokumentationen über Minimalismus oder den Regenwald angeschaut habe. Das schaue ich allerdings auch nur auf meinem Laptop in meinem schraubenfreien Zirbenbett und echter Tiroler Schafwolldecke an. Ein Fernseher kommt mir sicher nicht ins Haus mit seinen beeinflussenden Medien und so.

 

Eigentlich hätte ich voll Bock auf Tunfisch mit Avocado und einer kalten Cola dazu… das würde ich natürlich nie machen, wie könnt ich mir da jemals wieder selbst ins Gesicht blicken? Vielleicht mal, wenn ich wo zu Gast bin – wenn’s schon mal da ist…

 

Oder beim lokalen Pizzaservice eine Pizza mit Salami und extra Gorgonzola bestellen. Da bin ich zwar auch nicht sicher, woher die Salami jetzt genau stammt, dafür bleibt die Wertschöpfung in der Region und ich hole sie eh mit dem Fahrrad, das ich am Secondhand-Markt gekauft habe, selbst ab. Ich mein, irgendwann ist auch gut, oder nicht? Sonst können wir gleich alle nackt im Wald leben. Und sogar dort würden wir dann den lieben Rehen ihr Zuhause vollkacken und uns um die schönsten Bäume streiten. Ach, naja. Ein wenig Spaß darf doch noch sein, oder?

 

Letztes Jahr war ich mit dem Motorrad in Sardinien. Nicht ganz CO₂ frei, ich weiß, aber zu Fuß wäre es doch zu weit gewesen wegen der einen Woche. Da sieht man so viel schöne Natur wie sonst nur im Fernseher… ah, Laptop mein ich. Das hilft einem doch auch ein Auge für das Schöne und Reine unserer Welt zu bekommen, um dann zuhause ein besserer Mensch zu sein, oder? Dort habe ich mich selbstverständlich auch wie ein respektvoller Besucher benommen und nicht wie all diese blöden Tourist*innen. Die, die mit einem Kreuzfahrtschiff durchs Mittelmeer fahren. 14 Tage „All you can eat“-Buffet und Rohöl-Abgase inklusive eines neuen Reisekoffers voller gefälschter Plastik-Markenware aus zweiter Hand.

 

Die Fähre nach Sardinien hats halt gebraucht, schwimmen in der Motorraddress ist klarerweise unmöglich. Und wegen dem einen Mal doch nicht so schlimm.

 

Oder? Um was geht’s jetzt eigentlich nochmal?

Aja! Das Palmöl und der Teufel.

 

Vielleicht war das das erste Glas Nutella seit Jahren, welches die Dame sich da gekauft hat und ich darf nicht so streng sein mit ihr und mir und überhaupt. Muss es denn auch genau Sardinien sein? Der Achensee ist doch auch so schön! Wären da nicht immer diese lästigen Tourist*innen mit ihren Bedürfnissen voller Umweltsünden. Oder ist’s doch das Angebot unserer klimaneutralen Hotelbetriebe? Welches, außer sich gut zu verkaufen, nachhaltig nichts bringt? Naja, bringt schon mehr, als man auf den ersten Blick so sieht, aber wenn jeder mit dem SUV anreist, anstatt mit der Bahn!?

 

Kann ich nicht doch hin und wieder eine Avocado kaufen, ohne mich schlecht zu fühlen?

Schließlich habe ich mit meinem Urlaub letztes Jahr meine CO₂ Bilanz eh schon komplett versaut…wieder mal.

 

Verdammt!

Der Grad zwischen richtig Heiligem und falschem Heiligen ist wirklich schmal.

Möglicherweise gibt es doch einen gesunden Mittelweg, der nicht alles zerstört durch eine falsche Wahl im Geschäftsregal.

Wenn ich nur verzichten muss mein ganzes Leben, macht mich das auch komplett fertig. Und davon hat auch mein ganzes weltrettende Ich nichts. So ganz allein im Wald.

 

Aber nichts tun und nur aufs Rücksichtsloseste konsumieren kann ich auch nicht. Also wie jetzt?

 

„Die Dosis macht das Gift!“ Das hat schon mein Opa gepredigt. Demnach darf ich neben dem bewussten Fleischesser eventuell auch ein bewusster Avocadoesser sein, ohne gleich meine eigenen Prinzipien zu verraten? Der Opa war ja nicht blöd, also wird das schon stimmen! Ins Geschäft fahre ich selbstverständlich mit meinem Secondhand-Fahrrad. Das Motorrad nehme ich nur für kleine Ausflüge in die Natur.

 

Die Natur, die zu weit weg ist, um sie zu fühlen.

 

Bin ich zufrieden? Oder!?

 

Grüße, Herr Bert

Klimavocado © Christian Schwarzer