Vielleicht begann es damit, dass wir uns Baumbärte zwischen Nase und Oberlippe einklemmten. Gummiges Stroh, das unsere Nasen kitzelte, während wir «Baum» spielten.
Drag Show mit Baumbart
Der vorliegende Text ist erstmals 2023 als Vorwort erschienen in: Scheidegger, Keller und Stofer: Flechten der Schweiz – Vielfalt, Biologie, Naturschutz. Mit 52 Exkursionen. 1. Auflage. Bern: Haupt Verlag, 2023.
Wir hatten unseren Erwachsenen genau zugehört, auf ihre fischartig bloppenden Lippen gekuckt, die das Doppel-B formten: BaumBart. So heiße das Geflecht. Wir wussten, wie junge Menschen eben wissen: Das ist wirklich dem Baum sein Bart. Und wir konnten, was junge Menschen eben können: Wir verwandelten uns leichtfüßig, grünschnäuzig, rindenhäutig. Steckten uns an dieser ménage-à-trois an. Wir woben uns in die übergriffige Liebesbeziehung zwischen Pilz & Alge & Baum. Wollten mitspielen, mitsymbiotisieren, mitwerden. Wir machten Flechten-Drag, eine transspezies Verflechtung. Wir wurden durch die Baumbärte gleichzeitig Männer und Bäume, wir rannten die Hänge herab, rutschten auf den feuchten Nadeln aus und wenn unsere Erwachsenen uns suchen kamen, so waren wir wirklich Bäume geworden, Flechtenträger*innen, Wirtskörper. Die Baumbärte waren kleine, haarige Brücken zwischen dem Menschsein und dem Anderswerden.
Vielleicht, ja, begann die bewusste, selbstgewählte Ansteckung an anderen Körpern also mit den Baumbärten. Die Lust, sich zu vermischen. Sie begann da, und von da an gab es kein Halten mehr. Kein Halt mehr im Menschsein, kein darin Gehaltensein. Natürlich galt es zuerst noch die Pubertät zu durchringen, wo es einzig und allein darum geht, ein Mensch zu sein, ein richtiger, normaler. Nun jedoch, nachdem ich die Pickelgebirge doch einige Jahre hinter mir gelassen habe, konnte ich langsam, aber stetig wieder an diesen Sporen anknüpfen, die die Flechten in mich gestreut haben. Die Freude, anders zu werden. Die lichenologische Lust, viele zu werden, die lichterlohe Erotik des un-eins Seins.
Die Frage, die Sie selbstverständlich beschäftigt, ist selbstverständlich berechtigt: Wieso sind Flechten so geil? Was dieselbe Frage ist wie: Was können wir von ihnen lernen?
Wie Christoph Scheidegger, Christine Keller und Silvia Stofer in ihrem Buch Flechten der Schweiz – Vielfalt, Biologie, Naturschutz sehr schön zeigen, bestehen Flechten aus symbiotischen Beziehungen aus Pilzen und Algen oder Bakterien. Sie haben jedoch die reine Pilzexistenz, wie auch das klare Bakterientum oder Algenwesen hinter sich gelassen. Bei gewissen Arten wie der Lobaria pulmonaria, der Echten Lungenflechte, gibt es die Algen sogar gar nicht mehr außerhalb der Beziehung mit dem Pilz. Im Sprechen über diese Beziehungen wird manchmal Gewalt implizierendes, militärisches Vokabular benutzt, um die Connection zwischen Pilz und Bakterie/Alge zu beschreiben. Weil der Pilz manchmal mehr «profitiere». Er habe sie «sich einverleibt», «besetzt» oder ein Biologe sprach in meiner Gegenwart einmal von einer «Geiselhaft», in der sich die Alge befände.
Dies sind menschliche Konzepte, wie alle unsere Konzepte menschlich sind, wie wir uns nichts außerhalb unserer Konzepte vorstellen können. Wie es sich für die Symbiosepartner*innen der Pilze anfühlt: We don‘t know. Aber wenn die Algenpartnerin der Lungenflechte ihr Algendasein außerhalb dieser Verflochtenheit aufgegeben hat, und nur noch in der Pilzintimität lebt, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie es sehr uncool findet. Wie sich diese Intimitätslust anfühlt: We don‘t know. Vielleicht werden Kunst und Wissenschaft eines Tages zusammen mehr dazu sagen können.
Ich bin schriftstellerisch tätig und habe ein Theaterstück namens «Hänsel & Greta & The Big Bad Witch» geschrieben. Darin spielt die Lungenflechte eine Hauptrolle. Das Stück ist in einer vergangenen Zukunft angesiedelt, die Erde ist eine einzige monokulturelle Plantage geworden, die Luft «saumies». Hänsel und Greta, ein Schnegel, ein Vogel und die Hexe, das heißt das planetenweite Ökosystem, braucht die Echte Lungenflechte, damit sie die Luft filtert und die Erde wieder belebbar macht. Jedes Lebewesen unterrichtet die anderen in einer Lektion; vermittelt ein körperliches Wissen, das für das Überleben auf dem Planeten gebraucht wird. Und worin könnte die Lobaria pulmonaria Lehrer*in sein? Natürlich. Im Flechten. Sich mit anderen Arten verbinden.
«We are all Lichens», schreibt der Entwicklungsbiologe Scott Gilbert.
Wir alle sind Flechten, Verflochtene, Gezöpfelte Wesen. Jedes Säugetier trägt mehr nicht-tierische Zellen in sich (in Form des Mikrobioms) als tierische. Wir könnten nichts verdauen ohne unsere nicht-menschlichen Innerlichkeiten. Dass unsere Bakterienvölker auch sehr wichtig für Immunsystem und Psyche sind, wird wissenschaftlich immer mehr ergründet. Jedes komplexe Leben auf diesem Planeten ist eine jahrmillionenalte Liebesgeschichte über die Artengrenzen hinaus. Let‘s face it: Wir sind alles alte Mischmasch-Zöpfe.
Wenn Sie das Buch „Flechten der Schweiz“ in den Händen halten, dann infizieren nicht nur Sie das Buch mit der ganz eigenen Bakterienkultur, die Sie an ihren Fingern durch die Welt tragen. Wenn Sie dieses Buch lesen wollen, dann hat ein gewisses Interesse an Flechten Sie wohl schon von weither hierhin getragen. Interesse ist immer auch die Lust, sich etwas einzuverleiben. Ich unterstelle Ihnen hier also mal bisschen frech einen Flechtenhunger: das Begehren, sich diese Symbiosen unter die Haut zu jagen – zumindest stellvertretend, anhand des Wissens über sie. Ich glaube allerdings nicht an ein Wissen ÜBER etwas. Ich glaube nur an ein Wissen-Schaffen MIT.
Jetzt mal ehrlich: Wer versorgt in der Flechtenkunde wen mit Zückerchen, Sugar, Fotosynthetisiertem, dem Licht Abgefressenen – der Mensch oder die Flechten? Ich meine: Hat Christoph Scheidegger sich nicht völlig fressen lassen von «seinen» Flechten? Haben sie ihn nicht komplett eingenommen, ein ganzes Arbeitsleben lang? Er schreibt hier ÜBER sie – aber dient dies nicht auch den Flechten? Zeigt er nicht auf, welche Arten bedroht sind, wie sie geschützt werden können? Haben nicht die Flechten den Professor verführt? Haben Sie ihn nicht sogar so weit geführt, dass er auch uns mit seinem Flechtenwissen einflechten will?
Im dritten Teil, den Spaziergängen, knüpfen die Autor*innen an eine uralte literarisch-wissenschaftliche Tradition an: Das In-Kontakt-Treten mit der Welt durchs Beine-Vertreten. Das klingt lustig, ist es aber nicht. Wissen wird immer an spezifischen Orten, in konkreten Settings, von Menschen hergestellt, die in Beziehung miteinander und mit den Wesen an ihren Wohn- und Arbeitsorten verwoben sind. Dass uns dieser Text auf Exkursionen mitnimmt, empfinde ich als ehrlich, transparent und wichtig: So wird Wissen eben geschaffen. Beim Spazötteln, wie wir in Bern sagen. Es geschieht nicht losgelöst im luftleeren Raum oder einzig und allein in sterilen Labors. Es beginnt immer damit, dass ein Mensch an einem Ort ist und sich eine Frage stellt. Was sind das für Wesen, die da so orange, strauchig, uneins an den unwirtlichsten Orten gedeihen?
Vielleicht beginnt eine liebevollere, sorgenreichere Beziehung zu unserer Umwelt damit, dass wir uns gewisse Flechtenarten ankleben, uns lustvoll in Bäume verwandeln, unser Geschlecht – das heißt sowohl unser Gender als auch unsere Art – durch Baumbärte subvertieren.
Vielleicht ist es Spiel, vielleicht ist es Wissenschaft, vielleicht Kunst. Sicherlich ist es the way to go.
In meinem oben erwähnten Theaterstück habe ich mich anfixen lassen von der Leidenschaft der Lichenologie. Was ich gelernt habe, ist, wie konstruiert viele Grenzen sind. Zwischen Pilz und Alge, Flechten und Stein, Mensch und Bakterien. Ich habe versucht – mit der Flechtenlektion im Gepäck – auch die Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft zu verwischen. Die Probleme unserer Zeit sind planetenweit und hyperkomplex. Sie halten sich nicht an den Grenzen unserer Disziplinen auf.
Donna Haraway spricht davon, wie wir «response-ability» im Kapitalozän übernehmen können, verantwortungsbewusst handeln können angesichts von Klimawandel und Massenaussterben. Ihr Begriff schließt sowohl Verantwortung als auch eine Antwort-Fähigkeit ein. Sich mittels verflochtener Blicke unseren Mit-Lebewesen zu nähern, könnte ein Weg sein. Verflochtene Blicke? Sowohl-als-auch. Wissenschaftlich-künstlerisch, Text-bildlich, menschlich-flechtig.
Ich möchte Künste, die sich akademisch anfuttern. Ich möchte Formen des Wissens, die nicht verleugnen, dass sie intuitiv, körperlich, persönlich sind (wie zum Teufel könnte nämlich die obsessive Beschäftigung mit einer Spezies über ein ganzes Leben hinweg etwas anderes als zutiefst intuitiv, körperlich und persönlich sein?).
Ich möchte, dass Kunst und Wissenschaft symbiotisieren, sich nicht mehr an ihre frühere Getrenntheit erinnern.
Ich möchte Bildbände, die wissend fabulieren, und Bücher wie diese, die weder aus Pilz noch Algen, sondern Geflochtenem bestehen. Die unsere Steine und Köpfe bevölkern mit Geflechten, die unsere saumiese Luft von Altem, Toxischem befreien.
Ich finde, die vorliegende Monografie liest sich wie ein Spaziergang durch unsere Ahn*innengalerie. Keine allzu direkten Verwandten, klar (wobei ich persönlich schon gewisse Ähnlichkeiten mit der Anliegenden Krümelflechte habe, und gewisse meiner Verwandten der Poelts Schwielenflechte nicht unverwandt sein dürften). Aber doch sind sie durch und durch Alpenraumwesen. Und vor allem schon viel länger hier als wir. Vielleicht sind es also keine nahen genetischen Ahn*innen, aber wir können eben unsere Verflochtenheit mit anderem Leben, mit dem gesamten Ökosystem durch sie erahnen. Und was wäre wichtiger in diesen Zeiten, wo wir immer schneller unsere Lebensgrundlagen zerstören?
Christoph Scheidegger, Christine Keller und Silvia Stofer zeigen anhand der heimischen Flechten, wie vielgestaltig, komplex, wunderschön, unscheinbar und vor allem: verwoben mit Land und Klima das Leben auf diesem Planeten ist. Ihr Blick lädt dazu ein, das Leben als eine nicht-sexuelle Liebesbeziehung zu verstehen. Eine ménage-à-many. Unerotic, but sexy science.
Vielleicht beginnt es damit, dass wir uns Baumbärte zwischen Nasen und stiff upper-lips klemmen.
Kim de l‘Horizon
1992 in Ostermundingen bei Bern geboren, studierte Germanistik, Film- und Theaterwissenschaften in Zürich und literarisches Schreiben in Biel. Für das 2022 erschienene Romandebüt „Blutbuch“ wurde de l’Horizon mit dem Deutschen und Schweizer Buchpreis sowie dem Preis der Jürgen-Pronto-Stiftung ausgezeichnet.
Scheidegger, Keller und Stofer: Flechten der Schweiz – Vielfalt, Biologie, Naturschutz. Mit 52 Exkursionen. 1. Auflage. Bern: Haupt Verlag, 2023.