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Dem Boden zuhören

In ihrem Projekt „Ears of Earth“ beleuchten die Designer*innen Philipp Kolmann (AT) und Suzanne Bernhardt (NL) die Rolle von Mikroorganismen im Anbau und in der Verarbeitung von Lebensmitteln. Gemeinsam problematisieren sie romantische Vorstellungen von Natürlichkeit in Zeiten industrieller Nahrungsmittelproduktion und erforschen die Potentiale einer neuen Zusammenarbeit zwischen dem Menschen und seiner unsichtbaren Mitwelt.

In Vino Veritas

Auf Weinetiketten liest man des Öfteren eloquente Beschreibungen darüber, wie lokale Umweltfaktoren, beispielsweise die Beschaffenheit von Boden, Klima oder Topografie, den Charakter des Getränks auf natürliche Weise prägen. Das dem zugrundeliegende Konzept nennt sich „Terroir“, kommt von dem französischen Begriff „terre“ für “Land” und wird in Zeiten industrieller Herstellung von Wein und anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen heftig debattiert.

 

Die Debatten drehen sich dabei um die Frage, was nach dem Einsatz von Pestiziden, Desinfektionsmitteln und Zusatzstoffen noch vom „naturnahen“ Produkt und Geschmack des ihm zugrundeliegenden Lebensmittels bzw. Anbauortes übrigbleibt. Denn die meisten dieser Eingriffe haben die Abtötung dessen zur Folge, was dem Lebensmittel seine Lebendigkeit und der Natur gewissermaßen ihre Natürlichkeit verleiht: Mikroorganismen. Also jene Bakterien, Pilze und Algen, die symbiotisch im Boden, in der Luft, auf Pflanzen, Tieren und auch in Menschen leben.

Vielfalt versus Einfalt

Allein im menschlichen Darm sorgen mehrere Billionen von Mikroorganismen für die Aufspaltung von Nahrungsmitteln, die Funktionstüchtigkeit unseres Immunsystems und unsere allgemeine physische wie psychische Gesundheit. Auch in der Nahrungsmittelproduktion sind sie für die Gärung, Reifung und Konservierung von Lebensmitteln unerlässlich. (1) Sie machen den Traubensaft zum Wein und die Milch zum Käse. Doch statt der unendlich vielfältigen Kleinstlebewesen, wie sie im unbehandelten Traubensaft oder der Rohmilch natürlich vorkommen, werden in der Industrie heute künstlich gezüchtete und voneinander isolierte Mikroorganismen eingesetzt. Im Vergleich zu den in vielfältigen Gemeinschaften (Mikrobiome genannt) lebenden Vertretern aus der Natur ermöglichen diese einen kontrollierten Verarbeitungsprozess mit planbarem Resultat. Das Problem dabei: Bevor man ein Lebensmittel mit Mikroorganismen aus dem Labor anreichern kann, muss man sich der auf ihm natürlich lebenden Mikroorganismen entledigen. Einem neo-kolonialen Ansatz folgend (“Was der Mensch nicht kontrollieren kann, tötet er.”) werden so (auch im Bio-Segment) Traubensaft und Rohmilch durch verschiedene Prozesse sterilisiert, um im Anschluss in ebenso sterilen Umgebungen zum gewünschten, auf die Bedürfnisse der Verbraucher:innen abgestimmten Endprodukt weiterverarbeitet werden zu können.

„Was der Mensch nicht kontrollieren kann, tötet er.“

Das hat zur Folge, dass auf einen Schlag zahllose Mikroorganismen absterben und so die Verbindung zwischen Lebensmittel und “Terroir” über weite Strecken gekappt wird. Durch die folgende “Monokulturalisierung” mit Mikroorganismen aus dem Labor verliert das fertige Produkt nicht nur seinen ortstypischen Geschmack, sondern auch die für den menschlichen Organismus so wichtige mikroorganische Vielfalt. Schon heute führen Wissenschafter*innen stark zunehmende Zahlen an Autoimmunerkrankungen, Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Verdauungsbeschwerden unter anderem auf den erhöhten Konsum industriell verarbeiteter Nahrungsmittel mit niedriger mikroorganischer Vielfalt zurück.

Alte und neue Kollaborationen

Dass die Arbeit mit und nicht gegen natürliche Mikroorganismen aber große Potentiale für Geschmack, Qualität sowie für das Wohlergehen von Mensch und Umwelt birgt, zeigt die Arbeit der Designer*innen Philipp Kolmann und Suzanne Bernhardt. (2)

 

Neben seiner Tätigkeit als Designer, Forscher und Bäcker begann Philipp schon vor Jahren als Senn auf zwei Almen im Berner Oberland und den julischen Alpen an einer der industriellen Herstellung diametral entgegengesetzten Zubereitung von Käse zu arbeiten. (3) Dort kommt keine hocherhitzte, über weite Strecken transportierte Milch zum Einsatz, sondern die frische Rohmilch der auf umliegenden Wiesen grasenden Kühe. Statt synthetischer Pestizide werden alle Oberflächen auf der Alm mit warmer Molke gereinigt. Als Ersatz für Plastik und Edelstahl wird die Arbeit mit Holz und Naturfasern bewerkstelligt. Und der Lagerung im temperaturregulierten Betonkeller wird die Aufbewahrung und Reifung des Käses in einem Erdkeller entgegengesetzt. All das zum Erreichen eines gemeinsamen Zwecks: Die Schaffung einer Umgebung, in der die lokalen Mikroorganismen in der Rohmilch, auf den Händen des Käsers, auf den Oberflächen, im Holz, in der Erde und der Alm selbst ihre Arbeit zum Gelingen des Käses so gut wie möglich verrichten können. Das war noch vor wenigen Jahrzehnten gelebte Praxis in den Alpen und hat dabei Käse hervorgebracht, der nicht nur von Saison zu Saison, sondern auch von Alm zu Alm gänzlich anders schmeckte.

 

Auch Suzanne beschäftigt sich in ihrer kollaborativen Arbeit mit dem Zusammenhang von Mensch, Landschaft und Lebensmitteln. Sie bearbeitet dabei Fragen von Natürlichkeit und Ursprünglichkeit durch das Erforschen kolonialer Verflechtungen von landwirtschaftlichen Gütern, unter anderem am Beispiel des Farbstoffs “Roucou” (E160b), welcher auf niederländischen Schiffen vor rund 500 Jahren erstmals europäischen Boden erreichte und die holländische Käsekultur bis heute entscheidend prägt. Momentan widmet sich die Designerin als Auszubildende in einer traditionellen Windmühle der mechanischen Verarbeitung von alten Getreidesorten zu Mehl und anderen Erzeugnissen wie beispielsweise Brot und Seife. (4) In Abhängigkeit von Wind, Wetter und Gestein, welche die täglichen Arbeiten in der Mühle wesentlich bestimmen, untersucht Suzanne so die fragilen Verbindungen, die einer lokalen Esskultur zugrunde liegen.

Gemeinsame Evolution

Es ist im Rahmen des Forschungsprojektes “Ears of Earth”, dass die Erfahrungen der beiden Designer*innen auf erstaunliche Weise erstmalig zusammenfinden. “Ears” meint dabei den mit feinen Härchen ausgestatteten Fruchtstand von Getreide (Ähre), welcher, ähnlich dem menschlichen Ohr, kleinste Veränderungen in der Umgebung wahrnehmen und zur Reaktion an die restlichen Pflanzenteile weiterleiten kann. Dieses Sinnbild kann so auch als Aufforderung dafür verstanden werden, als Menschen dem Boden erneut unser Gehör zu schenken. Und genau um das geht es auch Philipp und Suzanne, wenn sie in Ears of Earth die gemeinsame Evolution von Menschen und Mikroorganismen anhand des Beispiels von Süßgräsern untersuchen. (5)

 

Als die weltweit am frühesten kultivierte Pflanzenfamilie haben Süßgräser dazu beigetragen, dass Menschen im Zuge der landwirtschaftlichen Revolution durch das Anlegen von Vorräten sesshaft werden konnten. Noch heute bilden Süßgräser, zu denen unter anderem Hafer, Weizen, Dinkel, Emmer, Hirse, Reis und Mais zählen, die Ernährungsgrundlage für Menschen auf allen Kontinenten. Gleichzeitig werden diese Pflanzen von lokalen Mikroorganismen bevölkert, welche für die Entstehung von heute alltäglichen Erzeugnissen, wie beispielsweise Sauerteigbrot oder Bier, zuständig waren.

Vermittlung durch Geruch und Geschmack

Diese komplexen Abhängigkeiten zwischen Menschen und deren unsichtbarer Mitwelt machen Philipp und Suzanne durch eine öffentliches, veganes Dinner erlebbar. Dafür haben die beiden über mehrere Monate hinweg zwischen Mexiko und den Alpen das Wissen um verschiedene traditionelle Gär-, Reif-, und Konservierungsprozesse gesammelt, um anschließend in acht Gängen inklusive selbstgemachter Getränkebegleitung eine breite Palette an Aromen und Texturen zu erzeugen. (6) Jeder Gang erzählt so die Geschichte eines Ortes und dessen komplexer Lebensmittelkultur durch Geruch und Geschmack.

 

Ein besonders interessantes Beispiel im Kontext der alpinen Landwirtschaft ist das im Dinner servierte Hirtenbrot (7), welches Philipp und Suzanne den Berichten einer Kärntner Bäuerin nachempfunden haben. Laut ihr hätten Schäfer*innen während der Arbeit im Hochland die eigenen Brotvorräte zur Konservierung gemeinsam mit dem reifenden Almkäse gelagert. Das hatte zur Folge, dass sich die natürlich im Boden und der Milch vorkommenden Mikroorganismen (Edelschimmelpilze) vor dem “gemeinen Brotschimmel” schützend auf das Brot legten und somit lange Haltbarkeit und sicheren Verzehr gewährleisten würden. (8)

 

Ähnlich ist es beim veganen Camembert: Hierfür wurde eine Mischung aus Hafer und Linsen mit Mikroorganismen aus Bergkräuter-Auszügen angereichert und dann mit den in einem Schweizer Erdkeller vorgefundenen Edelschimmelpilzen gereift. (9) (10) Was entstand, ist ein dem aus Kuhmilch hergestellten Käse optisch nur schwer zu unterscheidendes Erzeugnis. Dabei ist es nicht das Ansinnen von Philipp und Suzanne, ihre Kreationen als Ersatz, sondern vielmehr als Ergänzung zu bestehenden tierischen Produkten zu präsentieren. Denn vor der Verdrängung durch monokulturelle Anbauformen waren Hafer und Linsen speziell in den Alpen eine über Jahrhunderte hinweg verbreitete Mischkultur, in der sich die Pflanzen am Feld gegenseitig unterstützen, dem Boden wichtige Nährstoffe liefern und eine für die menschliche Ernährung komplexe Mischung aus Kohlenhydraten und Eiweiß bieten. Kurzum: Sie sind sowohl der Gesundheit von Umwelt als auch der Gesundheit des Menschen in höchstem Maße zuträglich. Darüber hinaus soll der vegane Camembert, wie alle anderen Gerichte des Dinners auch, die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zwischen lokalen Mikroorganismen und Menschen verdeutlichen.

 

Speziell in Zeiten, in denen die industrielle Milchproduktion aufgrund zunehmender Expansion und Abhängigkeit vom Weltmarktpreis ohne Subventionen nicht überlebensfähig wäre, könnte eine Rückkehr zu alten Anbauformen und innovativen, auf historischem Wissen beruhenden Verarbeitungsmethoden neue Möglichkeiten für Erzeuger*innen, Vebraucher*innen und die alpine Landwirtschaft bieten – und gleichzeitig einen Beitrag zum notwendigen Kulturwandel im Klimawandel leisten.

Die Berge rufen

Philipp und Suzanne planen, nach Durchführung ihrer ersten Dinnerserie auf Einladung von “Mediamatic”, einem der führenden Zentren an der Schnittstelle von Kunst, Natur, Biologie und Ernährung in Amsterdam, im Jahr 2023 eine gänzlich auf den alpinen Kontext adaptierte Version von “Ears of Earth”. Dafür arbeiten die beiden mit dem “Mühlerama”, Industriemühle, Ausbildungsort und Museum für Mühl- und Backkultur in Zürich, sowie den “Food Culture Days”, einer transdisziplinären Biennale zum Thema Essen und Ökologie im Schweizer Dorf Vevey zusammen – bald wird “Ears of Earth” also unweit der Tiroler Landesgrenzen erlebbar sein. Wer schon zuvor mehr über das Forschungsprojekt herausfinden will, dem sei nebenstehendes Video als Dokumentation des ersten Dinners (11) empfohlen. Weitere Informationen zu Philipp Kolmann und Suzanne Bernhardt sowie Einblicke in deren individuelle Arbeit gibt es in untenstehenden Links.

(1)Gereifte Butter aus Fichtenrindenfass © Philipp Kolmann, Suzanne Bernhardt

(2)Philipp und Suzanne © Paula Prats

(3)Traditionelle Alpkäse-Herstellung im Bregenzerwald © Philipp Kolmann, Suzanne Bernhardt

(4)Suzanne in der Windmühle in Limburg © Maryse Aalbers

(5)Roggen © Paula Prats

(6)Handgemachte Keramik aus “Ears of Earth” © Philipp Kolmann, Suzanne Bernhardt

(7)Edelschimmelpilze auf Brot © Philipp Kolmann, Suzanne Bernhardt

(8)Hirtenbrot: Gang Nr. 6 aus “Ears of Earth” © Philipp Kolmann, Suzanne Bernhardt

(9)Fermentierter Bergkräuter-Auszug, Hafer-Linsen-Camembert: Gang Nr. 7 aus “Ears of Earth” © Maryse Aalbers

(10)Hafer-Linsen-Camembert: Gang Nr. 7 aus “Ears of Earth” © Philipp Kolmann, Suzanne Bernhardt

(11)Ears of Earth © Suzanne Bernhardt