Ein ehemaliger Bauernhof in Hall wurde in Stroh- und Lehmbauweise in ein ökologisches Mehrgenerationenhaus transformiert. Ein Besuch in der „Lendwirtschaft“, wo jede Wand ein Unikat und trotzdem Teil eines großen Ganzen ist.
Weniger Emissionen beim Wohnen
Das Empfangskomitee trägt rotbraunes Federkleid und zum Eindruck einer ländlichen Idylle bei. Dabei ist die Altstadt von Hall gefühlt nur einen Steinwurf entfernt. Die Hühner kümmert das nicht weiter, auf die Besucherin warten abgesehen von der schönen Aussicht auch allerhand interessante Einsichten. Wir befinden uns in der Haller Lendgasse, eine ruhige Wohn-, früher auch landwirtschaftlich geprägte Gegend. Hier steht das Elternhaus von Veronika, Christina und Emmanuel Schmölz, das sie samt angrenzender Scheune zum Mehrgenerationenhaus umgebaut haben. Geleitet von der Idee eines gemeinschaftlichen Wohnkonzepts, mit nachhaltigen Baustoffen wie Holz, Lehm, Stroh und Kalk und zum größten Teil im Selbstbau.
„Lendwirtschaft“ haben sie dieses Projekt getauft, der Name nimmt auf die Landwirtschaft Bezug, die die Großeltern hier einmal betrieben haben und ist zudem eine Anspielung auf das Englische „to lend“, also leihen oder teilen.
Das Bauernhaus wurde während des Zweiten Weltkriegs zerstört, 1949 wiederaufgebaut und später zum Elternhaus der „Schmölzis“, wie sich die drei auf ihrer Website www.lendwirtschaft.at nennen. Sie geben dort Einblick in den Bauprozess, teilen ihre Erfahrungen, erzählen von den vielen Schritten auf dem Weg zu einem ökologischen Mehrparteienhaus – dem man seine Verwandlung auf den ersten Blick gar nicht unbedingt ansieht. Das ist auch ganz im Sinne der Bauherr*innen (und des Ortsbildschutzes): „Wir wollten den Bestand und ursprünglichen Charakter so weit als möglich erhalten“, sagt Emmanuel mit Verweis auf die geflämmte Holzverschalung der ehemaligen Tenne, die jahrzehntelang leer stand, bevor in den Geschwistern die Idee reifte, hier gemeinsame Sache zu machen.
Durch den Dach- und Scheunenausbau ist eine lebendige Wohnlandschaft mit insgesamt rund 600 Quadratmetern Wohnfläche, verteilt auf vier voneinander unabhängige Wohneinheiten entstanden. Hinzu kommen großzügige Gemeinschaftsbereiche. Im vorderen, gemauerten Gebäudeteil leben nach wie vor die Eltern Hermine und Gottfried Schmölz, zu den Jungen geht es nach oben: Veronika und Emmanuel sind hier jeweils mit ihren Familien eingezogen, Christina hat in ihrem Reich eine WG gegründet. Man betritt luftige Raumwunder mit doppelten Raumhöhen und Galeriegeschoßen sowie in die Dachschräge eingeschnittenen Terrassen. Die „Lendwirtschaft“ ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie sich beim Bauen im Bestand auch die Anforderungen moderner Wohnbedürfnisse erfüllen lassen und wie die Verbindung zwischen Neu und Alt funktionieren kann. Zum Beispiel, indem man Bestehendem neue Funktionen verleiht, so wie dem westseitigen, originalen Holzbalkon, der heute auch als Verbindungsglied zwischen den Wohnungen fungiert. In welchen Zonen sie sich begegnen, in welchen sie sich zurückziehen wollen, sei eine zentrale Frage im Planungsprozess gewesen, sagen die Geschwister, die von den Vorteilen und Synergien, die das gemeinschaftliche Wohnkonzept mit sich bringt, überzeugt sind.
Dass es sie überhaupt einmal ins elterliche Haus zurückziehen würde, hätten sie aber lange Zeit selbst nicht gedacht. Alle drei sind weit herumgekommen und viel gereist, haben während des Studiums „ganz klassisch“ in WGs gewohnt und sich nicht groß mit dem „Wohn-Thema“ beschäftigt, sagt Christina, Jahrgang 1989 und die jüngste der drei. Irgendwann kam das Thema doch auf, und weil Tirol ein immer teurer werdendes Pflaster ist, habe sich „der Platz in Hall einfach angeboten“. Wobei das allein als Argument nicht gereicht hätte, wie Veronika betont: „Man muss sich schon auch vorstellen können, so etwas mit seinen Geschwistern zu machen.“ Die „Schmölzis“ konnten das, auch weil sich herausgestellt hat, „dass wir alle das Gleiche wollten: Etwas Gemeinschaftliches machen, so weit als möglich ökologisch und im Selbstbau.“
Ist das nicht eine Nummer zu groß für euch? Baut ihr jetzt ein „Hobbit-Haus“? Mit solchen Fragen seien sie öfter konfrontiert gewesen, erzählt Veronika. Und sagt: „Eigentlich ist es erstaunlich, dass wir so robust waren und uns nicht beirren haben lassen.“ Zum Thema „Hobbit-Haus“ fügen Emmanuel und seine Partnerin Tine hinzu: „Das ist halt das, was man in der Öko-Bubble mit Baustoffen wie Lehm und Stroh verbindet“. Die Lendwirtschaftler verbanden damit aber keine naiven Form-Fantastereien, sondern nachhaltige Alternativen zu konventionellen Baumaterialien: emissionsarm, energieeffizient und mit jahrhundertalter Tradition. Nicht nur die Lehmbauweise, sondern auch der Strohballenbau erleben angesichts der Klimakrise zwar gerade eine kleine Renaissance, führen aber nach wie vor ein Nischendasein. Dabei hätten die Materialien so viele Vorteile, schwärmen die Schmölz-Geschwister: Beim Stroh sind das zum Beispiel sehr gute Dämmeigenschaften, es ist außerdem kostengünstig und ein guter Träger für Lehmputz. „Und sehr selbstbau-freundlich“, ergänzt Christina.
Die Lehmwände sorgen wiederum für ein tolles Raumklima, die Luftfeuchtigkeit sei „immer im Idealbereich, das ist schon faszinierend“, sagt Veronika. Und während Emmanuel davon spricht, dass die Oberfläche dieser Wände „einfach sympathisch, nicht so regelmäßig, irgendwie organischer“ sei, bringt es Tine wie folgt auf den Punkt: „Wir haben halt einfach eine emotionale Beziehung zu unseren Wänden.“
Kein Wunder, sie sind schließlich handgemacht, und das musste erst einmal erlernt werden. Nicht nur dafür holte man sich Unterstützung von Expert*innen, ohne die das Projekt „niemals umsetzbar gewesen wäre“, wie die Bauherr*innen betonen. Bereits die erste Bedarfsanalyse wurde unter professioneller Anleitung gemacht. Mit dem Ergebnis, „dass uns die Beziehung zwischen uns das Allerwichtigste ist“, erzählt Veronika. Will heißen: „Wir wollten uns auch danach noch verstehen“. Architekt Christian Knapp hat schließlich in enger Abstimmung mit der Familie die Entwurfsplanung übernommen, es galt zudem viele baurechtliche Fragen zu lösen. Lehmbauexperte und Architekt Kai Längle wiederum gab in Workshops Anleitungen zum Selbstbau und wurde zu einem „wichtigen Motivator“.
Allein acht Tonnen Stroh in Kleinballen stecken im Gebäude, viele Hände waren nötig, um sie unter anderem in die dafür vorgesehenen Ständerkonstruktionen aus Holz zu füllen. Neben unzähligen freiwilligen Helfer*innen haben auch Handwerker*innen auf der Walz auf der Baustelle mitgearbeitet, auf der den Geschwistern ein „wertschätzender Umgang“ besonders wichtig war. „Das Bauhandwerk ist ein hartes Pflaster, wo alle gestresst sind und sich ständig gegenseitig die Schuld geben“, sagt Emmanuel. Die „Lendwirtschaft“ sollte ein Gegenentwurf dazu sein.
Das Projekt hat allen Beteiligten trotzdem viel abverlangt. Zeit. Energie. Ausdauer. Geduld. Gegenseitiges Vertrauen. Geld. Aus den anfänglich sehr optimistisch geschätzten zwei Jahren Bauzeit sind am Ende rund sechs Jahre geworden. Aber hey, sagen die Schmölzis heute lachend, „im Vergleich zur Elbphilharmonie oder dem Berliner Flughafen liegen wir immer noch ganz gut“. Was das Geld betrifft, hat sich für sie bestätigt, dass ressourcenschonendes Bauen auch finanziell „einen Riesenunterschied“ macht. Auch weil Baustoffe wie Stroh und Lehm regional und zum Teil sogar kostenlos beziehbar waren. Vielen sei gar nicht bewusst, „dass es in Tirol überhaupt Lehm gibt“. Oder dass für das in den Bädern angewandte Kalkputzverfahren, auch bekannt als Tadelakt, nicht bloß Muschelkalk, sondern auch regionaler Sumpfkalk verwendet werden könne.
Von solchen Erkenntnissen erzählen die Geschwister nicht ohne Stolz – und geben sie gerne weiter. Weil Nachhaltigkeit auch in der Baukultur ein enorm wichtiges Thema sei – und auch bei der Innenausstattung gelebt werden könne. In Christinas bemerkenswert schicker Küche aus zweiter Hand bekommt man dazu einen „Life Hack“ mit auf den Weg gegeben: Auf Willhaben in der Region Kitzbühel suchen. Man würde staunen, was die Gutbetuchten alles ausmustern. Dem Upcycling-Gedanken folgend wurde auch viel Holz wiederverwendet, das beim Umbau des Stadels angefallen ist. Für Treppen, Türen, erst kürzlich auch für den Bau eines Hühnerstalls. Die „Lendwirtschaft“ hat neuerdings nämlich auch gackernde Bewohnerinnen.
studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Romanistik an der Universität Innsbruck. Sie war Leiterin des Kulturressorts der Tiroler Tageszeitung und ist seit 2018 als freischaffende Journalistin (u. a. für Der Standard) und Autorin („14 Tage 1918. Die Anfänge der Republik in Tirol”; Tyrolia Verlag; mit Matthias Breit) tätig. Schreibt schwerpunktmäßig über bildende Kunst, Theater, Architektur und Raumgestaltung sowie über gesellschaftspolitische Themen.