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Über den Patscher Leinen

Wie am Gschlösslerhof Landwirtschaft, Handwerk, Textilproduktion und Design verflochten und dabei textile Allianzen zwischen Patsch und der Welt geknüpft werden.

Dank des Tiroler Bloggers Werner Kräutler bin ich auf der Suche nach regionalen Textilproduzierenden auf Martin Stern in Neustift aufmerksam geworden. Dieser stellt als letzter Weber im Stubaital den sogenannten Wifling her – ein ähnlich dem englischen Tweed verwobener Stoff aus Schafwolle und Flachs, zwei Rohstoffe, welche über Jahrhunderte die textile Kultur im Alpenraum geprägt haben, ehe deren Anbau und Verarbeitung im Zuge der Globalisierung finanziell unrentabel geworden ist. Doch Martin Stern verwebt nicht nur Schafwolle umliegender Bauern und handgesponnene Garne aus historischen Restbeständen, sondern auch Geschichten. So erzählte er mir beim Besuch seiner Werkstatt, umgeben von historischen Webstühlen, von einer deutschen Modedesignerin, die Interesse am alten Handwerk gezeigt habe und sich in Patsch am Anbau und der Verarbeitung von Flachs versuchen soll. Eilig in mein Notizbuch eingetragen, geriet diese Geschichte wieder in Vergessenheit, ehe mir eine Freundin Monate später von ihrer Teilnahme an der Flachsernte am Gschlösslerhof erzählte. So also liefen die Fände neu zusammen und ich fand mich kurze Zeit später selbst am Rande des westlichen Mittelgebirges wieder.(1)

Dort sitzt mir Stephanie Höcker in einem zur Werkstatt umgestalteten Kuhstall für ein Gespräch gegenüber. Nach einem Modestudium in Bielefeld und einer Karriere als Modedesignerin bei Adidas in Nürnberg, wo sie unter anderem mit der Ethical Fashion Initiative in Afrika zusammenarbeitete, hat es sie zum Aufbau einer Sportswear-Abteilung mit Fokus auf Nachhaltigkeit für ein Start-Up nach Tirol verschlagen. Die Stadt hinter sich lassend, bezog sie eine Wohnung in Patsch und lernte dort Landschaftsgärtner und Bäuerinnensohn Max Greier, ihren späteren Lebens- und Arbeitspartner, bei einer Wallfahrt im Dorf kennen.(2) Als die Zeit beim Start-Up nach einem Jahr vorzeitig zu Ende ging, hatte Stephanie mit der Modeindustrie bereits abgeschlossen – der Wunsch nach mehr Autonomie und Wirksamkeit im eigenen Handeln war groß – und der Weg ins Stubaital nicht weit. Bei einer Radtour hatte auch sie die Weberei Stern entdeckt, in der sie in einer Zeit der persönlichen Neuorientierung sowohl mit dem Handweben als auch mit den eingangs genannten Rohstoffen Wolle und Flachs in Berührung kam.

Kurz darauf begann sie gemeinsam mit Max eine ausführliche Recherche zu den Wurzeln von Flachs, Wolle (und später auch Hanf) im Alpenraum – durch das Studium von alten Büchern genauso wie durch Forschungsreisen in die Schweiz, nach Süddeutschland und Ostösterreich.1

 

Ursprünglich aus dem nahen Osten, kam der Flachs zwischen 5700 und 4100 v. Chr. nach Mitteleuropa, wo die Pflanze auch heute noch prächtig auf den über 1000 Höhenmetern gelegenen Versuchsfeldern in Patsch gedeiht. Drei Ernten später ist Stephanie so nicht nur Flachszüchterin geworden, sondern auch Gründerin ihres eigenen Unternehmens, Mitglied der ARGE ALP Alpenhanf 360° und der Initiative AUTwool, Mitarbeiterin am GROWNlab der Universität Innsbruck sowie Gewinnerin des Vivienne Preises für ökologische Textilien 2024.(3)

Unter der Dachmarke intuism.crafts vereint sie zwei komplementäre Ziele: Erstens, leinup.austria – ein saisonales Programm von breitenwirksamen Workshops und Bildungsangeboten zum Thema Flachs – im Kreislauf vom Anbau am Hof bis zur Endverarbeitung in der eigenen Werkstatt.(4) Zweitens, intuism., eine kleinteilige Mode-Kollektion im Geiste von “Slow Fashion”, hergestellt unter anderem in Zusammenarbeit mit lokalen Handwerker*innen und dem Ziel minimalen Ressourcenverbrauchs bei maximaler Transparenz entlang der Lieferkette.(5) Beides ist Ausdruck ihrer Hingabe, tradierte Strukturen fortlaufend zu hinterfragen, Möglichkeitsräume für zirkuläres Handeln zu etablieren und entgegen geltender Praxis in der Modeindustrie andere zur Nachahmung einzuladen.

Diese Geste wird bei einem Besuch am Gschlösslerhof augenscheinlich, denn die Werkstatt fungiert nicht nur als Ort zur gemeinschaftlichen Verarbeitung von Flachs, sondern auch als Schauraum und Lernumgebung für interessierte Einzelpersonen, Schulklassen und Tourist*innen-Gruppen. Dort geben alte Maschinen, Informationsmaterial, Flachs in allen Reife- und Verarbeitungsstadien sowie Garne und Stoffmuster aus eigener Produktion und der näheren Umgebung Einblick in die komplexen Verflechtungen von Landwirtschaft, Handwerk, Textilproduktion und Design.(6) Ähnlich wie in der Arbeit One Field, One Shirt des Designers Takahiro Hasegawa lerne ich durch Stephanies fortlaufendes Monitoring, welche Anbaufläche zur Produktion eines einzelnen Kleidungsstückes notwendig wäre oder wie die Bestandteile der intuism. Kollektion ihren Weg nach Patsch finden. Weiters kann ich industriell hergestellte Leinenstoffe aus dem Mühlviertel mit Mustern von Martin Stern vergleichen, handgesponnene Garne von Weberin Regina Knoflach aus Igls bewundern und nachvollziehen, wie daraus mit eigener Schafwolle “made in Patsch” neue Strickmuster entstehen. Und wenn ich Stephanie während ihrer Führung durch die vielen weiteren Exponate so zuhöre, merke ich, dass das erst der Anfang ist – so viel gibt es noch zu versuchen mit ihrem großen Netzwerk an Partner*innen, mit Flachs und seinen Nebenprodukten, mit Wolle, Hanf und anderen Naturfasern.

Doch nicht nur menschliche und tierische Partner*innen braucht es, um Flachs von der Pflanze zur Faser zu wandeln – einen wesentlichen Teil der Flachsverarbeitung nimmt nämlich die mehrwöchige Fermentierung am Feld ein, währenddessen Bakterien und Pilze dafür sorgen, dass sich Faser und Stängel im Zuge des im Raum Innsbruck als “Brecheln” bezeichneten Prozesses gut voneinander lösen und zum gesponnen Garn weiterverarbeiten lassen. Die Grundlage dafür bildet der Ötztaler Leinen, dessen Samen Stephanie und Max über einen durch die Ötztaler Museen initiierten Versuchsanbau gewinnen konnten. Durch die biologische Saatgutvermehrung in Patsch wird der Ötztaler Leinen so langsam zum Patscher Leinen und passt sich über die Jahre den Gegebenheiten des neuen Standortes an.(7)

 

Stephanie erklärt, dass es für einen finanziell rentablen Anbau von Flachs, wie er bis ins 19. Jahrhundert im Ötztal stattgefunden hat, heute Flächen von mindestens 100 Hektar brauchen würde – was in Patsch weder möglich noch geplant ist. Ganz generell, erzählt sie, werde Flachs in Europa auf industriellem Maßstab bisweilen nur noch in Frankreich und Belgien angebaut. Mit nur drei Nassspinnereien in Europa (in Italien, Polen und Frankreich) würden zusätzlich 80 % des Rohstoffes in China versponnen und zum Weben wieder zurück nach Europa verschifft. Die Ausbeutung von Mensch und Natur ist dabei erheblich – was Stephanie in der Beschaffung von Stoffen für ihre auf Importe angewiesene Modekollektion schon vor Herausforderungen gestellt hat, weil Herkunft und Transportwege intransparent oder inexistent sind.2 (8)

In diesem Licht scheint Stephanies Arbeit, unterstützt durch die landwirtschaftliche Expertise von Max, deshalb umso dringlicher. Auch wenn ihr klar ist, dass sie damit die Modeindustrie nicht von einem Tag auf den anderen ändern kann, will sie weiter geebnete Pfade verlassen, Schritt für Schritt neue beschreiten und dabei altes Wissen mit neuem Handwerk verbinden, um sorgsames Wirtschaften mit und in der Region zu inspirieren.

 

1 Hier ein kleiner Überblick:

Archehöfe

Kunzenhof

Swiss Flax

Naturfaser Fölser

Vieböck Leinen

 

2 Das niederländische The Linen Project lotet deshalb gemeinsam mit dem Crafts Council Nederland seit einigen Jahren Möglichkeiten aus, Anbau und Verarbeitung von Flachs auf ökologisch und ökonomisch regenerative Weise wieder zurück nach Europa zu bringen.

(1)Flachsernte © Philipp Huber

(2)Max Greier und Stephanie Höcker © Philipp Huber

(3)Verleihung des Vivienne Preises für ökologische Textilien 2024 © Liebentritt

(4)Flachsverarbeitung © Philipp Huber

(5)intuism. Mode-Kollektion © Philipp Huber

(6)Einblick in die komplexen Verflechtungen von Landwirtschaft, Handwerk, Textilproduktion und Design gibt's in verschiedenen Workshops © Philipp Huber

(7)Patscher Leinen © Stephanie Höcker

(8)Herkunft und Transportwege © Stephanie Höcker