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Rural Commons Assembly

Wimmelnde Einblicke in das dritte Treffen zur transalpinen Verflechtung von Kunst- und Kulturschaffenden in Tschlin (CH).

Eingebettet und umgeben von endlosen Almwiesen, Wäldern, Trockenmauern-Terrassen und bunt getupften Wildblumenwiesen liegt auf einer Sonnenterrasse, etwa 1500 m ü.M., das kleine Dorf Tschlin im schweizerischen Unterengadin. Ein Dorf, das durch seine lange Geschichte des Gemeinschaffens, seine etwas abgelegene, aber strategisch günstige Dreiländerposition sowie die daraus resultierende intensive Auseinandersetzung der Bewohnenden mit ihrer unmittelbaren Umgebung einen idealen Rahmen für das dritte, nomadisch stattfindende Treffen der Rural Commons Assembly bot.(1)

Wie kann Kulturarbeit fantasievoll und ortssensibel auf die aktuellen klimatischen, ökologischen, sozialen und politischen Komplexitäten reagieren? Und wie können derartige klimakulturelle Vorhaben gestärkt und auf translokaler Ebene vernetzt werden, um Gegenseitigkeit zu fördern?

 

Aus diesen Fragen heraus und auf Initiative von Johannes Reisigl wurde im Jahr 2021 die Rural Commons Assembly (RCA) als translokale Allianz und iterative Plattform im Alpenraum ins Leben gerufen. Sie vernetzt derzeit etwa vierzehn Kunst- und soziokulturelle Organisationen aus Österreich, der Schweiz, Liechtenstein und Italien, die sich kreativ und zugleich kritisch mit den Orten und Lebensweisen auseinandersetzen, die sie bewohnen. Durch ein System rotierender Gastgeber*innenschaft haben die teilnehmenden Organisationen die Möglichkeit, sich einmal jährlich intensiv in den Kontext einer anderen klimakulturellen Initiative des Netzwerks zu begeben, sich auszutauschen, von- und miteinander zu lernen sowie gegenseitige Stärkungspraktiken und transformative Projekte zu entwickeln.

 

Durch konviviale Momente, das gemeinsame Verbringen von Zeit in einem nicht-institutionellen Umfeld, landschaftsverbindende Mahlzeiten, beziehungsstiftende Spaziergänge und das Teilen von Sorgetätigkeiten wird ein vertrauensvoller Rahmen geschaffen. Dieser ermöglicht es Gruppen, die an zeitgemäßen Formen des Gemeinschaffens (Commoning) sowie an sozial und politisch engagierter Kulturarbeit interessiert sind, andere an den Schönheiten und vielfältigen Hürden teilhaben zu lassen, die ein solches Tätigsein in Berggebieten mit sich bringt.

 

Die im Juni dieses Jahres stattgefundene viertägige Versammlung wurde von Curdin Tones, dem künstlerischen Leiter der Kulturorganisation Somalgors74, in und rund um sein Haus gehostet. Dadurch wurde das Treffen zu einer ganz besonderen Erfahrung des Zusammenwohnens, -arbeitens und -denkens, in die hier punktuell Einblick gegeben wird.

Ankunft in einem (Kultur-)Haus, das für das Gemeinschaffen gestaltet wurde

Nach einer etwa fünfstündigen Autofahrt aus Rovereto (IT) erreichen wir am Abend etwas verspätet das kleine Dorf Tschlin im schweizerischen Unterengadin. Aus der flachen Talzone des monokulturell geprägten Lagarina-Tals kommend, sind wir angenehm überrascht von der guten Luft, dem diversen Landschaftsbild und der angenehmen Kühle.

 

Warm werden wir in einem duftenden Haus empfangen und dürfen sofort ein rosafarbenes Lärchenrinden-Eis probieren, das für den letzten Abend des Treffens zubereitet wurde. Es ist spürbar, dass ein eingespieltes Team seit Tagen an der Vorbereitung des Treffens gearbeitet hat.(2)

Nach einer kurzen Einführung hantieren auch wir schon, bei dämmerndem Licht und Wein mit Teig und Mehl, um Roggen-Gersten-Gnocchi mit Salbeibutter für das Abendessen vorzubereiten.(3)

Das Haus, in dem wir uns befinden, besteht aus vielen kleinen „Häusern“, aus vier verschiedenen Küchen, offenen Räumen und diversen Zonen, die dem „Machen“ gewidmet sind. Zelte und andere temporäre Strukturen formen kleine, intime Bereiche für mögliche Gäste. Bald erkenne ich, dass Curdin ein Haus geschaffen hat, das wie ein lebender Organismus gestaltet ist, je nach Jahreszeit unterschiedlich gelebt werden kann, und ganz gezielt rund um Küchen und gemeinschaftsbildende Infrastrukturen organisiert ist.(4)

Während das kleine Feuer auf der Feldküche fast erlischt und unsere Mägen sich mit wunderbaren Gnocchi füllen, versinken wir in Erzählungen über einen Bären und Bienen, abenteuerliche Anreisen, und der Gestaltung von Gruppen für die Zubereitung der Mahlzeiten der nächsten Tage.

 

Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen ziehen wir uns in unsere Zelte im ehemaligen Heuschuppen zurück und schlafen bei dem sanften Geräusch von Regentropfen und dem Zirpen der Grillen ein.

Verwickelnde Landschaftswahrnehmungen, die zu lächelnden Mägen führen

Mit welcher Umgebung interagiert Somalgors74 als Kulturverein? Wie beeinflusst die Art und Weise, wie Land bewirtschaftet wird, die Biodiversität und damit die Möglichkeiten der sinnlichen Vermittlung alpiner Landschaften durch Kulturvereine? Beispielsweise durch das gemeinsame Kennenlernen, Erkennen, Zubereiten und Verkosten von Wildkräutern?

 

Ganz verwöhnt von dem liebevoll vorbereiteten Frühstück mit echter Butter, selbstgemachtem Brot und Somalgors74-Honig von Biene Vanessa, brechen wir am nächsten Tag mit Curdin zu einer ersten Landschaftserkundung und Wildkräuterwanderung auf, um Brennnesseln und Blüten für das Knödelessen am Abend zu sammeln.(5)

Durch das gemeinsame Erkennen und Wahrnehmen von Pflanzen lässt uns Curdin an verschiedenen Aspekten der Landschaft, des Ortes und seiner Geschichte(n) teilhaben. Eine solche intimitätsfördernde Praxis ist zentral in der Kulturarbeit von Somalgors74, bei der regelmäßig mit Geruchserinnerungen und -erfahrungen in alpinen Landschaften gearbeitet wird, um fürsorgliche Beziehungen zu anderen Lebewesen und Mineralien durch Geschmackskontakte herzustellen.

 

Ganz angesteckt von Curdins Leidenschaft für sinnliche Vermittlungen kehren wir mit einem gefüllten Brennnessel-Korb, wilden Salbeiblüten und vielem mehr zurück, um den Rest der angereisten Gruppe der diesjährigen Assembly zu begrüßen.

 

Nach einem ausgiebigen Mittagessen voller wilder, köstlicher Fermentierungsexperimente befinden wir uns wieder im (Kultur-)Haus von Curdin. Überall um mich herum sehe ich Töpfe, Einmachgläser, Mörser, Mühlen, Steine, getrocknete Kräuter und Küchenutensilien – es duftet nach einem wilden Gemisch aus Wurzeln, Rinden, Gräsern und Kräutern. Wir beginnen mit der ersten Runde des Teilens und des Austauschs, die natürlich mit Pausen für köstlichen Schoko-Ingwer-Kuchen und Kombucha-Drinks verwoben ist.

Was ist seit der letzten Assembly in den jeweiligen Gruppen passiert? Mit welchen neuen und alten Herausforderungen und Schönheiten beschäftigen sich die anwesenden Gruppen aktuell, und welche Überschneidungspunkte können wir erkennen? (6)

Bevor der Abend in wilden Schnapsverkostungen des Knödelvorbereitungsteams endet und die Gespräche zwischen den Küchenzeilen fortgeführt werden, stellen wir fest, dass die meisten Gruppen im vergangenen Jahr immer wieder mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert wurden: den Überarbeitungstendenzen, die durch transformative Kulturarbeit entstehen können, der komplexen Beziehungsarbeit mit lokalen Regierungen und einer Vielzahl von Vermittlungs- und Kommunikationshürden.

Historische Gemeinschaftsarchitekturen als Ausgangspunkt für klimakulturelle Arbeit

Tag drei der Assembly begann mit einem geführten Spaziergang durch das Dorf Tschlin, geleitet von unserem Gastgeber Curdin. Das Dorf, dessen Nachbarschaften sich um Gemeinschaftsbrunnen strukturieren, verbirgt soziale Geschichten in Hausfassaden, Türen, Erkern und Fenstern. Alle architektonischen Elemente hatten eine gemeinschaftsbildende oder gar beobachtende Funktion. Werden die kollektiv ausgehandelten Regeln zur Nutzung von Gemeinschaftsressourcen, wie etwa den Brunnen, eingehalten?(7)

Heute greift Somalgors74 diese historisch-kulturellen Elemente auf, um beispielsweise ein Brunnenbad zu aktivieren, das Leben in die Nachbarschaft zurückbringt, oder um die „Sgraffito“-Hausfassaden als ornamentales, zeitgenössisches Mitteilungsmedium im öffentlichen Raum zu nutzen.(8)

Angeregt durch die Art und Weise, wie Somalgors74 die umgebende Landschaft in seine Auseinandersetzung mit Klima- und Umweltfragen durch kulturelle Praxis verwebt, verlassen wir das Dorf und setzen unseren Weg über die Almwiesen fort.

 

Wir bewegen uns wie ein Vogelschwarm: Wir tauschen uns in kleinen Gruppen aus, gehen kurz alleine, ohne uns aus den Augen zu verlieren, um anschließend wieder gemeinsam Diskussionen über zukünftige Schritte fortzuführen.(9)

Am Nachmittag setzen wir im immer kühler werdenden Tschlin die Arbeit in Kleingruppen fort, um gezielte Strategien für die am Vortag formulierten Herausforderungen zu entwickeln.

 

Etwas müde, aber sehr inspiriert, bündeln wir schließlich noch einmal unsere Kräfte, um über Möglichkeiten zur Weiterentwicklung des Netzwerks und deren informelle Versammlungen nachzudenken. Dabei diskutieren wir auch die Formulierung eines gemeinschaftlichen Förderantrags, durch den gegenseitige Befähigungspraktiken gestärkt fortgesetzt werden könnten.(10)

Die Assembly neigt sich langsam dem Ende zu, und wie könnte sie dies anders tun als mit einer sinnlichen kulinarischen Direkt-vom-Tisch-Verkostung von Polenta mit Gartengemüse und Rhabarber-Chutney, die in einem gemütlichen Leseabend endet, bei dem visionäre Arbeits- und Denkweisen aus dem Buch AS IF – 16 Dialogues about Sheep, Black Holes, and Movement geteilt werden?(11)

Flora Mammana

ist seit dem Jahr 2019 aktives Mitglied im Verein La Foresta – Accademia di Comunità in Rovereto (IT). Die Gemeinschaftsakademie befindet sich in den ehemals leerstehenden Räumen des Bahnhofs Rovereto und ist nun zu einem lebendigen Ort des Gemeinschaffens und gegenseitigen Lernens geworden. Flora ist als Teil des Netzwerks und in Zusammenarbeit mit anderen Kollektiven als Gestalterin, Organisatorin und Kulturproduzentin im Bereich sozialer und emanzipatorischer Transformationen tätig. In ihrer Arbeit, die eng im Commoning verwurzelt ist, versucht sie, Menschen, andere Lebewesen und Ideen zu verbinden, um fantasiereiche solidarische Möglichkeiten zur Sicherung von Lebensunterhalt zu verwirklichen. Flora Mammana hat einen Hintergrund in der Bekleidungstechnik (B.Sc.) und hat zuletzt Transformation Design (M.A.) an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig (DE) und Öko-Soziales Design an der Freien Universität Bozen studiert, wo sie auch als Forscherin und Dozentin gearbeitet hat.

(1)© Flora Mammana. Blick auf das historische Dorf Tschlin, Engadin in der Schweiz.

(2)© Matteo Pra Mio. Viele Hände fühlen, formen und schneiden Teig.

(3)© Matteo Pra Mio. Die ersten Roggen-Gersten Gnocchi sieden in einer mobilen Feldküche.

(4)© Matteo Pra Mio. Gemeinschaffen, Intimität und wildes Hantieren rund um die Feldküche.

(5)© Matteo Pra Mio. Verwickelt in eine Fülle an tiefen Wahrnehmungen und Erzählungen über wilde Kräuter, Blumen, Insekten und Weiden. | Kurze Pause zur Bewunderung der Landschaft während des ersten Wildkräuterspaziergangs.

(6)© Matteo Pra Mio. Curdin Tones stellt Somalgors74 vor und verwickelt uns durch eine performative Geste in Erzählungen rund um die Beziehungsarbeit mit lokalen Regierungen, Offenheit und (un-)mögliche Kollaborationen. | Der Kulturverein BASIS Vinschgau Venosta zeigt uns die fragilen Linien zwischen Regeneration, Spekulation und Einhegung auf, mit denen dieser derzeit konfrontiert ist.

(7)© Flora Mammana. Versammlung rund um einen der vielen historischen Gemeinschaftsbrunnen im Dorf Tschlin.

(8)© Matteo Pra Mio. Verwickelt in historische Geschichten, die sich mehr oder weniger sichtbar in den Architekturen des Dorfes verbergen.

(9)© Matteo Pra Mio. Eine Wanderung durch die nahegelegenen Wälder und Wiesen, um unsere Beziehung zur Landschaft sinnlich und aufmerksam zu vertiefen. | Gruppenfoto während des Spaziergangs zur Landschaftswahrnehmung rund um Tschlin.

(10)© Matteo Pra Mio. Teilen von gemeinsam erarbeiteten Strategien, um Erschöpfung zu vermeiden und Energien sorgsam lebendig zu halten.

(11)© Matteo Pra Mio. Direkt-vom-Tisch-Verkostung von Polenta mit Gartengemüse und Rhabarber-Chutney.