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Parterre6

In der neuen Ateliergemeinschaft im Innsbrucker Wilten verhandeln vier Menschen die Schnittstellen zwischen Industrie und Handwerk, Kunst und Wissenschaft neu.

Innsbruck, Maximilianstraße, nur einen Steinwurf entfernt vom Tiroler Landesgericht (und der vorgelagerten Kreuzung). Geschäftiges Treiben auf den Gehsteigen, eine in beide Richtungen stark befahrene Straße. Links und rechts davon: Parkende Autos und historische Gebäude, welche die sommerliche Hitze gegenseitig reflektieren. Schattenspendende Bäume sucht mensch, wie so oft in dieser Stadt, vergebens. Dazwischen: Eine serbisch-orthodoxe Kirche, die Traditionskonditorei Valier, die Grafik-Designer:innen vom Super Studio und seit einiger Zeit: Zwei große, liebevoll gestaltete Schaufenster, deren Anblick Nachbar:innen und Laufkundschaft gleichermaßen ins Innere lockt. Dort, wo vor vielen Jahren handgefertigte Schirme die Auslage zierten, später ein Buchbinder und mehrere Gestalter:innen ihrem Tagwerk nachgingen (darunter Gerhild Purtscheller und Norbert Lanznaster, gefolgt von Plural), findet sich heute das Parterre6 (1) – so der aktuelle Name dieser geschichtsträchtigen Räumlichkeiten mit dunklem Fischgrätboden, Messingtürgriff und hohen Altbaudecken. Wo Parterre für die ebenerdige Lage steht, weist 6 den Weg zum Haus, in dessen Geschichte sich nun 4 neue Menschen einschreiben. Als Teil einer lebendigen Gemeinschaft, mit Tischlerei im Hinterhof, Künstlerin Charlotte Simon nebenan und Katze Peppi (2) auf regelmäßigem Besuch, finden sich dort seit Oktober 2022 Melanie Gandyra, Julia Platzgummer, Nina Bogner und Lindsey Nicholson wieder.

Zu diesem Zeitpunkt war Melanie, welche zuvor als Künstlerin und Illustratorin in Hamburger Ateliergemeinschaften gearbeitet hatte, auf der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz – was sich in Innsbruck, aufgrund horrender Immobilienpreise und chronischen Platzmangels, für die freie Szene alles andere als einfach gestaltete. So traf es sich gut, dass Julia, Lehrerin für Bildnerische Erziehung und Textiles Gestalten mit einem Hintergrund im Modedesign, und Nina, Umweltökonomin mit internationaler NGO-Erfahrung (momentan beim Klimabündnis Tirol), ein erstes Zuhause für ihr Jungunternehmen suchten. Und weil aller guten Dinge in diesem Fall nicht drei sind, komplementierte Lindsey, ebenfalls Künstlerin (und Professorin für Glaziologie an der Universität Innsbruck), auf der Suche nach einem Atelier außerhalb der eigenen vier Wände, die Gemeinschaft. Für die vier war klar, dass das Teilen von Ressourcen nicht nur Notwendigkeit ist, sondern auch Mehrwert bietet. Bei allen finanziellen Vorteilen sind es vor allem die inhaltlichen Überschneidungen, die gemeinsamen Zusammenkünfte, der Austausch, die gegenseitige Unterstützung und das wechselnde Publikum, welche Parterre6 zu einem weiteren lebendigen Ort im Stadtteil Wilten machen.

 

Betritt mensch diesen Ort, was im Vorbeigehen auch erwünscht ist, begrüßen einen Julia und Nina, umgeben von bunten Jacken, Hosen und Stoffresten, Nähmaschinen, einer Transferpresse und diversen Werkzeugen. Unter dem Namen Second Ascent (in Anlehnung an “first ascent”, englisch für “Erstbesteigung”) reparieren die beiden Outdoorbekleidung aller Art. (3) Von Löchern und Abriebstellen bis hin zu gebrochenen Reißverschlüssen und ausgerissenen Knöpfen – für Julia und Nina steht der funktionale Aspekt des Reparierens mindestens genauso im Vordergrund wie der emotionale. Sie verstehen ihre Tätigkeit als Ausbruch aus der Unmündigkeit des Konsumismus und als Akt der Fürsorge für Liebgewonnenes – von Kleidung bis hin zu allen Wesen, Tieren, Menschen und Organismen, die, oftmals an fernen Orten, zu dessen Entstehen beitragen. So wird Reparatur zur Begegnung mit unterschiedlichen Geschichten und das Handwerk zu einer Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Sinnstiftung – irgendwo beginnen, ins Tun kommen, mit dem Material fühlen und die Früchte der Arbeit teilen können – in Form von reparierten Textilien, Gesprächen genauso wie durch Workshops und Pop-Ups – zum Beispiel bei der Circular Design Week Tirol.

Einen Raum weiter sitzt Melanie zwischen Büchern, Pflanzen und mit gemalter Formenvielfalt bestückten Wänden an ihrem Tisch und zeichnet. (4) Sie hat sich in ihrem künstlerischen Schaffen der Vielfalt menschlicher und nicht-menschlicher Ökosysteme verschrieben und entwickelt ganz analog – mit Stift und Pinsel – neue Darstellungsformen, die Einblick und Auskunft geben, informieren und berühren gleichzeitig sollen. Mit einem Hintergrund in der Informativen Illustration (sowohl als Studierende als auch als Lehrende) weiß sie um die Potentiale von Bildern in der Vermittlung komplexer, oftmals abstrakter Inhalte – nicht als Beiwerk zum Text, sondern als ebenbürtiges Erzählelement, um Zugänglichkeit, Verständnis und Vorstellungskraft zu fördern. Dies zeigt Melanie in ihrer Arbeit mit Umweltschutzorganisationen, Zeitungen und Magazinen sowie in selbstinitiierten Projekten, beispielsweise “Low Bow – von Drama und Klima”, ein Theater in Buchform, das auf surreale (und fundierte) Weise die Geschichte der globalen Erhitzung nachzeichnet, oder “Von Nutz & Zier”, das die 800-jährige Geschichte des Innsbrucker Hofgartens und seines Palmenhauses unter Berücksichtigung ökologischer Besonderheiten und kolonialer Plünderungen grafisch neu aufbereitet. In Zeiten alternativer Fakten und zunehmender Wissenschaftsskepsis wandelt Melanie investigierend zwischen Wissenschaft und Kunst, um Synergien auszuloten und Gegensätzlichkeiten abzubauen.

Das verbindet sie auch mit ihrer Sitznachbarin Lindsey, welche in umgekehrter Reihenfolge – nach vielen Jahren in der Klimawissenschaft – durch ein Studium an der Universität der Angewandten Kunst die künstlerische Forschung für sich entdeckte. (5) Was als einstiger Kindheitstraum und dem Wunsch nach mehr Freiraum begann, hat sich heute zum experimentellen Dialog der Disziplinen entwickelt. Für Lindsey sind sowohl Wissenschaft als auch Kunst, trotz ihrer unterschiedlichen Strukturen und Gesetzmäßigkeiten, Wege, Fragen zu stellen, die Welt zu untersuchen und im Rahmen dieser Suche mögliche Wege aufzuspüren, ohne im Vorhinein zu wissen, wohin genau sie führen mögen. Im Rahmen ihrer Arbeiten wird diese Beziehung zwischen Wissenschaft und Kunst begreiflich – in Girls on Ice beispielsweise begeben sich FLINTA* Personen (s. Infobox) auf eine hochalpine Expedition und untersuchen mittels transdisziplinärer Methoden mehrere Tage einen sterbenden Gletscher. Ähnlich verhält es sich mit der sich in Entwicklung befindlichen Arbeit “Ice Memory”, einer Zusammenarbeit mit Künstlerin Eline Kersten, Komponist Hans Gurstad-Nilsson, dem schwedischen Kammermusikorchester Camerata Nordica und mehreren Universitäten, in der durch Performances, Konzerte sowie einer Ausstellung und Publikation jene im “ewigen Eis” gespeicherten, komplexen urzeitlichen Geschichten entziffert, übersetzt, vertont und visualisiert werden sollen.

Was die vier im Parterre6 vereint, ist der Wunsch, kollektive Schockstarre, Überforderung und Orientierungslosigkeit zu überwinden und – auch abseits des klassischen Aktivismus – in Aktion zu treten. (6) Was sie in ihren Arbeiten so auf ganz unterschiedliche Arten kultivieren, ist ein sinnlich-ästhetischer Zugang zur Welt, in dem wir mit Materialien fühlen, uns von Komplexität berühren lassen und dem Gletscher zuhören lernen. Für alle, die so selbst ins Spüren kommen wollen, sei ein Besuch im Parterre6 (und der kreativen Nachbarschaft) empfohlen – vielleicht hat sich bis dahin auch der lang gehegte Wunsch eines Hochbeetes im vorgelagerten Parkraum materialisiert.

Kontakt

Weitere Informationen zu zukünftigen Aktivitäten des Parterre6 sind hier zu finden:

 

Parterre 6

Second Ascent Repairs (Nina Bogner und Julia Platzgummer)

Melanie Gandyra (und Instagram)
Lindsey Nicholson (und Instagram)

info

Anmerkung:

FLINTA* steht für: Frauen, Lesben, Inter*, nicht-binäre, Trans* und Agender Personen.

(1)Parterre6 © Florian Scheible

(2)Katze Peppi © Florian Scheible

(3)Second Ascent © Florian Scheible

(4)Melanie Gandyra © Florian Scheible

(5)Lindsey Nicholson © Florian Scheible

(6)Nina, Lindsey, Julia, Katze Peppi, Melanie © Florian Scheible