Alpine Echoes and Caucasian Voices – ein Besuch im Rahmen der Tage der Klimakultur von Eva Siller und Anne Sausgruber.
Ein Grund zum Bleiben am GRUND1535 in Rietz
Für ein multimediales Abendprogramm haben wir uns am 3. Oktober 2025 nach Rietz im Bezirk Imst begeben. Dörfliche Idylle – man grüßt sich auf der Straße. Parallel zum Rietzer Bach geht’s aufwärts in die Dorfmitte. Anfang des Jahres schrieb Juri Velt über Toponyme – Flurnamen, als fürsorgliche Werkzeuge, um Beziehungen zu Landschaften aufzubauen. Auch Rietz trägt solche Spuren in sich. Der Ortsname bezieht sich vermutlich auf das reißende Gewässer, das dem Bergmassiv entspringt und sich nun seinen Weg durchs Dorf bahnt. Am Laden „Jagd & Waffen“ vorbei, zeigt sich uns ein historischer Bauernhof, dahinter ein altes wirtschaftliches Gebäude, gerahmt von einem Nadelbaum. Unter einem Bogen laden zwei rote Stühle zum Sitzen und Verweilen ein.
Eine kleine Malerei auf der Fassade verrät uns, dass wir hier richtig sind: »ERBAUT 1535«
Ein Zuhause und bewohntes Archiv
GRUND1535 als offener Ort und Bleibe: Der Kulturverein möchte mit dem historischen Hof in Rietz einen Ort schaffen, an dem sich viele Menschen zu Hause fühlen – eine vorübergehende oder längerfristige „Bleibe“ finden. Das Haus hat eine lange Geschichte der Offenheit: Schon früher war es ein Ort, an dem Leute willkommen waren, ob „Dåige“ oder „Fremde“, wie sie die Großeltern der Vereinsobfrau Brigitte Egger nannten. Seit Generationen ist dieser Hof in ihrer Familie. Nachdem die wirtschaftliche Nutzung, zuletzt als übergenerationale Metzgerei, aufgegeben wurde, stehen nun viele Räume leer und werden zum Ort der Inspiration und des Austauschs.
Der Hof wurde zum Ausgangspunkt und Beweggrund für den Verein, der 2022 unter anderem von Brigitte, ihrer Schwester Carmen Egger und ihrer damaligen Mitbewohnerin Carina Mayer gegründet wurde. Dieser soll Traditionen der Familie weiterführen und transformieren. Das Hauptanliegen des Kulturvereins ist der Aufbau nachhaltiger, langlebiger Beziehungen. GRUND1535 legt aber auch Wert darauf, Beziehungen über Grenzen hinweg aufzubauen. Regelmäßig werden internationale Künstler*innen zu Residencies eingeladen. Ziel ist es, diese Kontakte aufrechtzuerhalten und die Menschen nicht aus den Augen zu verlieren, sondern sie für weitere Aufenthalte oder Projekte wieder einzuladen, um langfristige Beziehungen zu schaffen. Eine bereits wiederkehrende Zusammenarbeit hat auch diesen Abend gestaltet.
In Kooperation mit dem Austrian Music Video Award Die Goldene Schindel (organisiert vom Kulturverein LoR. – Legends of Rock) und im Rahmen der Tage der Klimakultur, hat GRUND1535 ein vielfältiges Programm geschaffen. Im Untergeschoß des Hauses werden die verschiedenen Positionen miteinander verwoben: Musikvideoscreenings, gefolgt von einer Dokumentation, abgerundet mit einer audiovisuellen Performance, gerahmt durch eine Kunstinstallation.
Es ist ein offenes Haus, eine Gemeinschaft, ein Ort des Aufeinandertreffens.
How many of us will remain?
Im Rahmen der FOKUS INTERNATIONAL Office Ukraine (Re)Creation Residency und in Kooperation mit dem Künstler*innenhaus Büchsenhausen wurde Künstler*innen aus der Ukraine angeboten, Zeit und Ruhe abseits des nahen Kriegskontexts zu verbringen, ohne die Pflicht zur Produktion. Oksana Pohrebennyk wurde diesen Sommer zur zweimonatigen Residency nach Rietz eingeladen.
Inspiriert von der Energie des Ortes und der Umgebung schuf die Künstlerin während ihres Aufenthalts eine multimediale Installation, die durch den Abend führt und von Brigitte Egger und Anastasiia Diachenko kuratiert wurde. Beim Betreten des Grundstücks begrüßt uns schon eine Gruppe ungewohnter Besucher*innen: Murmeltier und Frischling, Fuchs und Reh liegen friedlich und reglos nebeneinander. Schaumstofffiguren, deren durchlöchertes Fell Kreise zieren. Oksana Pohrebennyk waren diese Nicht-Tiere bei ihrem ersten Besuch im Rietzer Wald aufgefallen, im Bogenparcour. Ihr Mitgefühl für die Weggenossen*innen bewegte die Künstlerin dazu, den Tieren eine Geschichte vorzulesen: Ein Kapitel aus dem Kurzroman Schattenfuchs des isländischen Autors Sjón, das von einem Jäger und einem Fuchs erzählt. Auf die geflieste Wand des ehemaligen Metzgerei-Ladens projiziert, läuft nun die daraus resultierende Videoarbeit Playground.
Pohrebennyk beschreibt diese im begleitenden Wandtext als einen „Gestus, der Versuch, diesen Kreaturen zu erklären, was ihnen widerfuhr, warum sie gejagt werden, warum sie verletzt sind.“
Ringsum hängen kleine Bilder, einzeln angestrahlt, ein Rehkopf, ein Hinterkopf, ein Ohr. Die Latex- und Keramikinstallation inmitten des Raumes breitet die Gedanken über Wunden und Verletzbarkeit noch greifbarer aus, die auch aufgrund der Kriegserfahrung der Künstlerin präsent sind. Oksana Pohrebennyk stellt mit ihrer Installation Playground Fragen nach Verletzlichkeit und Empathie. „Empathie gegenüber dem, was uns umgibt.“
Wie oft machen wir die Natur zu unserem Spielplatz, ohne genügend Gespür dafür, wer überhaupt gewinnt oder doch eher verliert?
Auch wenn es sich um keine lebendigen Wesen handelt, stehen diese Wunden sinnbildlich für unser distanziertes Verhältnis, zu Tieren, zur Natur. Die Arbeit knüpft an die Gedanken von Nicola Weber aus dem letzten Blogbeitrag zu Entfremdung und Empathie an.
Wie viele von uns werden bleiben? Das Video beantwortet diese Frage mit den Worten „some will remain“. Manche werden bleiben und eine „Bleibe“ finden, wie die Schaumstofffiguren beweisen. Ein Nicht-Wolf lehnt an einem der steinernen Stall-Gewölbe und wartet mit uns auf das folgende Programm.
Globale Perspektiven und heimische Parallelen
Die Veranstaltung steht wie bereits bei der letztjährigen Kooperation mit der Goldenen Schindel unter dem Motto „Global Perspectives“. Das Ziel ist dabei, sich von einem eurozentristischen Blickwinkel zu lösen und aktive Verbindungen zu Regionen außerhalb der eigenen Bubble herzustellen. Zum Auftakt werden drei der bei der Goldenen Schindel nominierten Musikvideos gezeigt. Neben ausdrucksstarken Choreographien (Sequénce) und bildgewaltigen Naturschauspielen in Island (Evon Rose) gab es auch eine Musikvideopremiere: Das neue Video von Jesse – „Jimmi der Dieb“ – wurde auch teilweise am GRUND1535 gedreht.
Der musikalische Leitfaden wird auch im daran anschließenden Dokumentarfilm „Life in Three Voices“ von Marina und Leo Decristoforo aufgegriffen. Der Film erzählt von der traditionellen georgischen polyphonen Gesangstradition und begleitet das Ensemble Adilei und die Chamgeliani Sisters auf Tour in den USA und in ihrer Heimat Georgien. Dabei wird auch die enge Verbindung zwischen dem Gesang und den Landschaften Georgiens rundum den Kaukasus gezeigt. Wie prägen Landschaften auch unsere Kulturen und Traditionen? Die Protagonisten betonen, dass sie ihre Traditionen als formbar begreifen, sie sind experimentell und entwickeln sich weiter. Sie dienen als Grund für Gemeinschaften, die auch über Grenzen verschiedenster Art hinweg gelebt werden können.
Die georgische Tradition zeigt dabei auch Parallelen zum in unseren Breitengraden verankerten Jodeln.
Das Phänomen dieses Gesangs, der in der Art der Technik in den unterschiedlichsten Teilen der Welt vorkommen, hat GRUND1535 und die Goldene Schindel auch zur Pop-Up-Intervention “Gebirgsruf und Weltecho – Yodeling as an echoing and global phenomenon“ im Volkskunstmuseum inspiriert.
„Hier treibt mich Gott über den Grat, ich rutsche ab, die Welt wird staad.“
Dieser Aspekt der Anverwandlung von Tradition gibt auch in der abschließenden audio-visuellen Performance den Ton an. Das Musikprojekt Staad von Lucas Passenberger lässt uns in die raue und doch so schöne Natur des Alpenraumes eintauchen. Monochrome Visuals werden von einem Zusammenspiel traditioneller, historischer Field-Recordings untermalen. Eben wiegen sich noch Sonnenblumen im Wind, die Schafe reihen sich entlang Serpentinen Richtung Tal, das letzte Heu wird eingefahren. Dann fällt der erste Schnee, unheilvolle Laute werden gespielt. Mit dem Anschwellen einer Lawine ertönt ein altes Krippenlied.
Es entsteht eine Klanglandschaft aus gefundenen Aufnahmen, während Winterlandschaften über die Leinwand flackern.
Die alpine Landschaft erscheint hier in all ihrer Bedrohlichkeit, ohne dabei ihre Schönheit zu verlieren. Sich ganz und gar auf die Natur einzulassen, sich „einzuwalden“ wird hier emotional greifbar, die Ehrfurcht früherer Generationen spürbar. Pulsierende Wurzeln, tobender Schnee, archaische Wesen und Runen, bedrohliche Bergmassive paaren sich mit Glockenklang und Gesang, Donnergrollen und Schellenschlägen. Flüsternde Stimmen und Sternenhimmel und dann wird‘s staad. Hier, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen, gibt es immer einen Grund zum Wiederkommen und zum Bleiben.
In Kooperation mit dem kulturnetzTirol gibt es am 18. und 19. Oktober auch die Ausstellung „Mit Stift und Fantasie durch die vier Elemente“ – Generationen gestalten miteinander im Gemeindesaal Rietz zu sehen. Ein Kreativkurs für Kinder, geleitet durch Carmen Egger, bildet die Ausgangslage einer Entdeckungsreise zwischen den vier Elementen. Werke der „Rietzer Künstler*innen“ liefern einen Austausch zwischen den Generationen.
(geb. 2002) wuchs in Baumkirchen (Tirol) auf. Nach einer Ausbildung im Bereich Malerei und Design folgte das Studium der Kunstgeschichte in Innsbruck. Sie ist als Kunstvermittlerin und im Besucher*innenservice im TAXISPALAIS Kunsthalle Tirol tätig und daneben in der freien Kulturszene aktiv, in den letzten Jahren unter anderem bei der BALE Innsbruck und dem Verein kunst|stoff.
(geb. 2002) ist zwischen dem Tiroler Unterland und den Südtiroler Bergen aufgewachsen. Nach einer Ausbildung im Bereich Bildhauerei und Objektdesign widmete sie sich dem Studium der Kunstgeschichte in Innsbruck. 2025 hat sie die Meisterprüfung zur Keramikerin im Burgenland absolviert und ist als Fotografin und Grafikdesignerin tätig.