Durch den Klimawandel verändern sich unsere Landschaften — sie werden anders aussehen, sich anders verhalten, anders genutzt werden. Doch haben wir eine Sprache zur Hand, um uns in dieser sich verändernden Welt zurechtzufinden?
Die Zeichen zerbrechen, und sind nicht mehr sicher – Über Sprache in sich wandelnden Landschaften
Amitav Ghosh argumentiert in Uncanny and Improbable Events (London: Penguin Books, 2021), dass „im Herzen der Klimakrise“ ein „imaginatives und kulturelles Versagen liegt, […] das zum Teil aus der Komplexität der Fachsprache resultiert, die uns als primäres Fenster zum Klimawandel dient“. Toponyme wiederum sind Teil einer Sprache, die aus der Landschaft kommt, und als „ortspezifische Fachsprache“ anders greifbar.
ÜBER TOPONYME
Wir nennen viele Orte beim Namen — Städte, Häuser, Berge, Seen. Viele dieser Namen finden wir auf Wegweisern und Karten. Und wir tragen auch noch andere Namen für Orte mit uns mit, welche wir nicht auf offiziellen Aufzeichnungen lesen. Diese finden wir in gesprochenen Sprachen.
Toponyme — auch Flur- oder Ortsnamen — geben uns die Möglichkeit, einen greifbaren geografischen Raum zu benennen und uns darauf zu beziehen. Dieser Raum kann eine Stadt sein, aber auch ein Feld oder nur der schattige Teil eines Feldes. Die Wörter, die zum Namen werden, spiegeln die spezifischen Eigenschaften wider, welche den benannten Raum definieren. Diese Eigenschaft kann etwas Visuelles sein: eine Felsformation, die wie eine Figur aussieht, ein blaues Haus. Andere Toponyme beziehen sich auf etwas, was der Landschaft passiert ist: häufige Lawinenabgänge, zyklisch wiederkehrende Überschwemmungen. Manche Toponyme beziehen sich auf den Umgang mit der Landschaft, die Art von Besitztum oder Erschließung: ein trockengelegtes Stück Land, ein gemeinschaftlich genutztes Feld. Sie spiegeln damit nicht in erster Linie die physischen, sondern vielmehr die historischen und sozialen Aspekte eines Ortes wider. Toponyme erzählen von den Beziehungen zu einer Landschaft. Sie zeigen, was als wichtig genug angesehen wurde, was „einen Namen wert“ war.
Manchmal braucht es nicht viel, um zu erkennen, auf was sich ein Toponym bezieht, wo die Wurzeln der Wörter liegen. Manchmal braucht es eine leichte Veränderung der Perspektive oder eine kleine Verschiebung der Zunge. Manchmal können mit zusätzlichem Wissen (oder genügend Fantasie) Spuren davon gefunden werden. Und manchmal bleibt der Ursprung unter Sprachschichten, wucherndem Grün oder Kellern verborgen. Aber selbst wenn eine Bedeutung im Dunkeln bleibt, macht die Benennung eines Ortes diesen zu einem Teil der eigenen Landkarte. Toponyme lassen eine Landschaft über Sprache wachsen — nicht in Größe, sondern im Detail.
DIE GESCHICHTEN, DIE SIE ERZÄHLEN
Orte in einer Landschaft beim Namen nennen zu können, erleichtert die Orientierung in ihr und ermöglicht Zugang zu dem Wissen, welches in sie eingeschrieben ist. Toponyme erleichtern die Lesbarkeit eines spezifischen Ortes, seiner Vergangenheit und seiner möglichen Zukunft. Sie sprechen auch über (oder sogar zu) der Gegenwart. Welche der namensgebenden Merkmale sind noch vorhanden? Was, wenn der Bach nur noch Staub mit sich bringt? Das Feld zubetoniert ist?
Über Toponyme wird Landschaft zu Sprache. Und über diese Sprache kann eine Landschaft zurück in unser sensorisches Verständnis der Welt übersetzt werden. Sie informieren uns darüber, was ein Ort erlebt hat — wie er klang, wie er roch, wie trocken oder nass er war. Sie rufen Bilder hervor, erzählen Geschichten, lenken die Aufmerksamkeit auf eine Empfindung.
EINE LANDSCHAFT, KEINE NIEMANDSLANDSCHAFT
Die Benennung von Orten hilft zu verhindern, dass eine Landschaft in den abstrakten Raum abgleitet und zu einer blandscape wird — ein Begriff, abgeleitet von engl. landscape für Landschaft, wobei das bland als vage, nichtssagend übersetzt werden kann. Eine blandscape beschreibt eine Landschaft, die in großen, allgemeinen Einheiten wie Feld, Tal oder Wald erfasst wird — sozusagen eine zeitgenössische Niemandslandschaft. Ihre Merkmale verschwinden zwar nicht, aber sie werden unbenannt und damit unwichtig.
Eine Landschaft ist nie etwas Gegebenes — wie wir sie wahrnehmen, hängt von vielen Faktoren ab. Die Wörter, die wir für eine Landschaft benutzen, sind einer dieser Faktoren. Sie beeinflussen, was wir sehen. Sprachdefizite führen zu Aufmerksamkeitsdefiziten, wobei sich das Fehlen einer intimen Verbindung und das Fehlen einer spezifischen Sprache gegenseitig verstärken. Die Landschaft mitsamt ihren Besonderheiten wird nicht mehr wahrgenommen. Sie wird unbeschrieben und unsichtbar — und dadurch wird sie verletzlicher. Sie wird anfälliger dafür, nur über ihren Nutzwert definiert zu werden, anfälliger für Ausbeutung. Und wir werden unfähiger, Veränderungen in ihr wahrzunehmen. Und auch um anderen zu zeigen, warum eine Landschaft schützenswert ist, braucht es eine Sprache, welche ihre spezifischen Eigenschaften und Merkmale beschreiben kann.
Um wo bleiben zu können — um wo bleiben zu wollen —, brauchen wir eine Beziehung zu der Landschaft, die uns umgibt.
TOPONYME ALS WERKZEUGE
Sprache hilft uns, uns zu orientieren. Toponyme erden uns zusätzlich in einer Landschaft, indem sie uns auf das aufmerksam machen können, was mit der Landschaft um uns passiert. So werden sie zu einem wichtigen Instrument, um in enger Verbindung mit sich verändernden Landschaften zu bleiben — oder um eine solche wiederzuerlangen. Außerdem wollen wir uns meist mehr um etwas kümmern, wenn wir es näher kennen. Sprachen mit ihren Toponymen und mit deren Fähigkeit zu bemerken, zu benennen und zu verorten, sind somit ein Werkzeug der Fürsorge für eine Landschaft. Um wo bleiben zu können — um wo bleiben zu wollen —, brauchen wir eine Beziehung zu der Landschaft, die uns umgibt. Und um in Verbindung zu bleiben mit einer Landschaft, brauchen wir eine spezifische Sprache — unter anderem die der Toponyme. Sie sind ein Werkzeug dafür, in Verbundenheit mit sich verändernden Landschaften zu bleiben. Vielleicht finden wir durch sie auch mehr Wörter, um uns in dieser Welt voller rapider, menschengemachter Veränderung zurechtzufinden.
Die Arbeit The signs are collapsing, and no longer certain untersucht das Potenzial von Sprache, unsere Wahrnehmung von sich verändernden Landschaften zu formen.
Was sagen uns Toponyme (Flur- oder Ortsnamen) in einer sich rapide verändernden Welt – wenn zum Beispiel der Lahnbach nur noch bröseligen Staub bringt, das Minkusfeld eine Wohnsiedlung ist oder sich das Nasstal trocken anfühlt?
Sieben Fotografien, begleitet von Text, dokumentieren Interventionen in Schwaz, Österreich, im Mai 2023: Schilder aus ungebranntem Ton, auf denen ortsspezifische Toponyme stehen, montiert auf Metallstangen. Die Schilder werden – wie die Toponyme selbst – als Spuren verstanden. Sie lösen sich mit der Zeit auf und hinterlassen leere Metallklammern.
Haag, später
Klammer, Aluminium
Mai 2023
© Juri Velt
MINKUSFELD
Minkusfeld ist ein Toponym, welches als Adresse für eine Wohnsiedlung verwendet wird. Minkus ist der Nachname eines früheren Besitzers des Minkusschlössel südlich der Siedlung. Bis zum Baubeginn wurde das Feld für landwirtschaftliche Zwecke genutzt. Die Wohnanlage besteht aus 71 Zwei- bis Vierzimmerwohnungen und wurde 2023 fertiggestellt.
Schild, ungebrannter Ton
Klammer, Aluminium
12,5 cm x 50 cm
Mai 2023
© Juri Velt
PIRCHANGER
Während Pirch für Birke steht, bezieht sich Anger auf eine gemeinschaftlich genutzte Weide. Gebäude, die einen Anger umgeben, orientieren sich oft an der Fläche. Ein Anger war ursprünglich Teil einer Allmende – ein System der gemeinschaftlichen Verwaltung von Ressourcen. Ein Anger diente nicht als Acker für die Nahrungsmittelproduktion, sondern als Weideland für Tiere und oft auch als Raum für gemeinschaftliche Versammlungen, manchmal mit Infrastruktur zum Wäschewaschen oder Brotbacken. Oft sind Anger in der Nähe von Gewässern. Ab dem Spätmittelalter – und verstärkt während der Einhegung-/Privatisierungsbewegung im 18. Jahrhundert – wurden gemeinschaftlich genutzte Strukturen zunehmend privatisiert und in kleinere (Bau-)Grundstücke aufgeteilt.
Schild, ungebrannter Ton
Klammer, Aluminium
12,5 cm x 50 cm
Mai 2023
© Juri Velt
HAAG
Haag bezeichnet ein Stück Land, das von einer lebendigen Hecke umgeben ist. Solche Hecken bestehen meist aus dornigem Gehölz, um Wildtiere vom Eindringen abzuhalten. So findet sich Ha(a)g in vielen Bezeichnungen für Büsche und Sträucher wieder, die Teil solcher Hecken sein können – etwa Hagedorn oder Hagebutte. Als Ortsname bezieht sich Haag meist auf Gebiete, die im Mittelalter durch Rodungen von Wäldern entstanden, um die nutzbare Fläche einer Siedlung zu vergrößern. Als neu erschlossenes Gebiet lag ein Haag dadurch am Rand einer Siedlung – und der Haag mit seiner lebendigen Hecke markierte die Grenze zwischen kultiviertem Land und der dahinterliegenden Wildnis. Oft befand sich am Haag ein ärmlicher Hof, in dem meist Personen wohnten, die auch gesellschaftlich am Rand standen – nicht selten alleinstehende Frauen. Das Bild der Haga Zussa – der Hecken- oder auch Zaunreiterin – wurde später zur Grundlage der Figur der Hexe.
Schild, ungebrannter Ton
Klammer, Aluminium
12,5 cm x 50 cm
Mai 2023
© Juri Velt
LAHNBACH
Lahnbach ist ein Toponym für einen Bach und seine unmittelbare Umgebung. Lahn(e) ist ein alter Begriff für Lawinen und taucht in alpinen Toponymen häufig in Gebieten auf, die von Vermurungen oder Verschüttungen betroffen waren. Früher führten die Schneeschmelze im Frühjahr und sommerliche Gewitter regelmäßig dazu, dass der Lahnbach seine Umgebung mit Wasser, Steinen, Geröll, Schutt und Holz überflutete. Das mitgeführte Material gelangte bis ins Zentrum von Schwaz und wurde dort zum Bau einer Mauer um den Lahnbach sowie für den (Wieder-)Aufbau der umliegenden Häuser genutzt.
Heute wird der Lahnbach durch Stufenbecken aus Beton stabilisiert und kontrolliert, und ist streckenweise begradigt.
Schild, ungebrannter Ton
Klammer, Aluminium
12,5 cm x 50 cm
Mai 2023
© Juri Velt
NASSTAL
Nasstal ist ein Toponym für ein Tal, und ein Straßenname in ebendem. Das Toponym bezieht sich wahrscheinlich auf die schattige Lage und das feuchte Klima. Ursprünglich wehrten sich die Bewohnerinnen gegen die Einführung des Straßennamens Nasstal, aus Sorge, dass ihre Immobilien und Grundstücke zu stark mit Feuchtigkeit in Verbindung gebracht werden und dadurch an Wert verlieren könnten.
Schild, ungebrannter Ton
Klammer, Aluminium
12,5 cm x 50 cm
Mai 2023
© Juri Velt
KRAKEN
Kraken ist ein Toponym für einen Ortsteil in Schwaz. Im 16. Jahrhundert befanden sich viele Häuser der Knappen vom Silberbergwerk auf dem Kraken. Während das Wort Kraken mit dem Namen des mythischen Seeungeheuers übereinstimmt, könnte es in einem toponymischen Kontext von älteren germanischen oder skandinavischen Wurzeln abgeleitet sein und so etwas wie krumm oder verdreht bedeuten. Das Wort bezieht sich eventuell auf das komplexe Tunnelsystem, das sich unter dem Gebiet befindet.
Schild, ungebrannter Ton
Klammer, Aluminium
12,5 cm x 50 cm
Mai 2023
© Juri Velt