Oben Sauna, unten Gletscher. Für den Kellerraum eines Mehrzweckgebäudes im Kaunertal hat sich die Gemeinde eine Ausstellung über den Gepatschferner gewünscht. Bekommen hat sie – nach hitzigen Debatten – etwas Besseres: Eine höchst spannende, dichte und ebenso wissenschaftliche wie anschauliche Verknüpfung globaler Klimathemen mit der Geschichte und Zukunft eines Tiroler Tales.
Der Gletscher, der spaltet
Tummelplatz Gepatschferner
Hat man erst einmal verstanden, dass es hinter der hölzernen Fassade an der Kaunertaler Landesstraße nicht nur zum Hallenbad, der Saunalandschaft, dem Tourismusbüro und dem Veranstaltungssaal geht, sondern auch in die gesuchte Dauerausstellung, fällt der Blick rasch auf die bedruckte Glaswand im gemeinsamen Foyer, die den tieferliegenden Ausstellungsraum vom Chlorgeruch trennt. Sie zeigt die Grafik einer Klimakurve, die wir inzwischen aus den Medien kennen: Um mehr als 1 Grad hat sich die Erde seit der Industriellen Revolution erwärmt, die kritische Grenze von 1,5 Grad könnten wir bereits in den 2030er Jahren übersteigen.
Sofort wird klar – hier geht es um ein globales Thema, das sich anhand der lokalen Gegebenheiten in vielen Facetten erzählen lässt. Der Gepatschferner im hinteren Kaunertal, zweitgrößter Gletscher Österreichs nach der Pasterze, ist nämlich nicht nur Naturwunder und Tourismusmagnet, sondern auch Tummelplatz internationaler Forschungsprojekte, Teil einer Versuchsregion zur Klimawandelanpassung, Objekt für künstlerische Auseinandersetzungen, Ort des TIWAG-Kraftwerksbaus der 1960er Jahre und immer wieder auch Grund für starke Emotionen und tiefe Gräben. All diese Handlungsstränge werden in der Ausstellung aufgegriffen, verknüpft und vermittelt.
Zwischen Machtgefüge und Klimawandel
Die Gemeinde hätte sich das anfangs allerdings ganz anders vorgestellt, erzählen die Ausstellungskurator*innen Petra Paolazzi und Niko Hofinger. Erwartet hätte sie eine Schau über den majestätischen Ferner, über Eis, Schnee und Bergsteigerpathos. Schon die ersten Gespräche mit Expert*innen wie dem Innsbrucker Klima- und Gletscherforscher Georg Kaser hätten aber klar gemacht: Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen, höchstens noch unter dem Titel „Goodbye Glacier“. Außerdem habe sich das vermeintliche Gemeindearchiv als private Sammlung des Chronisten herausgestellt.
Die Ausstellungsmacher*innen wandten sich also dem viel aktuelleren Klimathema zu und entwickelten gemeinsam mit dem Architekturkollektiv columbosnext ein inhaltlich-räumliches Konzept. Dessen Präsentation vor den Verantwortungsträger*innen des Tales lief gar nicht wie erhofft. „Es kam für uns unerwartet, dass die Fakten zum Klimawandel im Tal nicht gerne gehört wurden,“ erzählt Petra Paolazzi. „Manche hatten Bilder aus Tiroler Tourismusprospekten erwartet und die haben wir nicht geliefert,“ ergänzt Niko Hofinger. Zum Machtgefüge im Kaunertal gehören Bergbahnbetreiber, Bürgermeister, Tourismusleute, Naturparkverantwortliche und Aktivist*innen, deren unterschiedliche Interessen zu dem Thema sichtbar wurden, und auch die Tiroler Wasserkraft redete mit. Die Umsetzung stand auf der Kippe, doch schließlich konnten alle an Bord gebracht werden, auch die TIWAG. Das Klimathema war gesetzt.
Globales Thema – lokaler Kontext
Aus den unattraktiven Kellerräumen, einem „totalen Unort“, wie die Kurator*innen erzählen, machten die Architekt*innen von columbosnext ein helles, räumlich spannendes Ausstellungssetting, das die niedrige Raumhöhe und die Schwimmbadtechnik geschickt ausblendet. Eine abstrakte „Gletscherspalte“ erzeugt als Raumskulptur Höhe und geht in langgezogene Vitrinen, Sitzmöbel und Wandpaneele über, an und in denen die Ausstellung „Mit aller Kraft. Klima, Gletscher, Kaunertal“ ihre Geschichte erzählt – mit vielfältigen, nie überdidaktischen Methoden:
Begonnen wird mit der ganzen Wucht des Themas: Der Bericht des Weltklimarates IPCC liegt in gedruckter Form auf. Auch wenn die dicken Schwarten niemand lesen wird, dieses geballte Wissen kann niemand leugnen. Gegenüber als Kontrast hängen die fast naiv anmutenden Aquarellbilder des amerikanischen Wissenschaftlers Gregory C. Johnson, der damit ein Werkzeug fand, den Klimawandel niederschwellig zu erklären. Akustisch begleitet eine Klanginstallation der Südtiroler Künstlerin Michaela Kerer die Situation. Sie lässt uns hören, wie Gletschereis lebt, schmilzt, sich verfestigt, kratzt und atmet.
Ein paar Schritte weiter wird das globale Thema auf den lokalen Kontext heruntergebrochen – ein Maßstabssprung, der immer wieder bewusst eingesetzt wird und die Ausstellung besonders auszeichnet. Ein minimundusartiges Landschaftsmodell zeigt die regionalen Aktivitäten zur Anpassung an den Klimawandel, für die das Kaunertal seit 2017 eine Modellregion ist. Da geht es um Details, die Veränderung bewirken: Ein verlandeter Weiher, der wiederhergestellt wurde und jetzt Mikroklima und Biodiversität verbessert, günstige Regenwassertanks für Gartenbesitzer*innen oder 380 neu gepflanzte Obstbäume mit unterschiedlichen alten Sorten.
Naturwunder in Stop-Motion
Am Ende des Raumes kommt erstmals der eigentliche Protagonist in den Blick, der Gepatschferner. Aus tausenden Fotos, die den Gletscher seit zehn Jahren dokumentieren, ist ein Stop-Motion-Film entstanden, in dem man ihn wie einen mächtigen Organismus fließen sieht. Von dieser ästhetischen, fast liebevollen Darstellung des Naturwunders kann man sich kaum trennen. Für einen Augenblick ist alle Schwere des Themas verschwunden.
Nach der atmosphärischen Einleitung liegt hinter der nächsten Kurve das Kernstück der Ausstellung: der Gletscher als Ort wissenschaftlicher Forschung. Erstaunlich, wie viele internationale Teams ihn als Prototypen für die Klimaveränderung untersuchen und welche teils skurrilen Objekte zwischen hightech und handmade die Kurator*innen dazu fanden: Probenflaschen, Pegelmesser, Motorsäge, Maßband, abgestürzte Drohnen, eine Rückenkraxe mit Kelomat zur Erhitzung der Bohrstangen.
Die Wissenschaftler*innen kommen in Videos auch selbst zu Wort und berichten von der Beforschung spezifischer Glockenblumenarten, deren Wurzelgeflecht ausgeapertes Gelände vor dem Abrutschen sichert, von Klimainformation, die in jahrhundertealten Baumscheiben gespeichert ist, oder der Untersuchung von Schwermetallen, die bei der Gletscherschmelze ausgewaschen werden. Die Grafiken des Lustenauer atelier stecher tun das ihre zur verständlichen Vermittlung, sogar die Typografie wurde extra für die Ausstellung entwickelt – sie heißt „melt“.
Emotionaler Streitpunkt Wasserkraft
Dann wieder ein Maßstabssprung, diesmal von der universitären Forschungslandschaft zur lokalen Bevölkerung. Erinnerungsobjekte und Interviews zeigen die enge Verbindung der Kaunertaler*innen mit ihrem Ferner – eine Sammlung, die künftig wachsen soll. Und schließlich der Schlusspunkt der Ausstellung, der sich in einem knallroten Wellblechcontainer abspielt und vom Kraftwerksbau der 1960er Jahre und der Wasserkraft als emotionalem Streitpunkt erzählt. Eine dichte Fotowand, bestückt vor allem aus dem Archiv der TIWAG, zeigt die gewaltige Baustelle zwischen 1961 und ‘64, die mit heutigen Augen betrachtet brachial und gewalttätig in die Natur eingreift. Damals jedoch galt der Steinschüttdamm als Innovation, der Speichersee war ein Spitzenreiter in Sachen Fassungsvermögen.
Kritisch sah es kaum einer – im Vordergrund stand der Zivilisationsschub für das Tal, über den in einem Videointerview auch Bundespräsident Alexander van der Bellen erzählt, der bekanntlich hier aufgewachsen ist. Zu den wenigen hundert in Subsistenzwirtschaft lebenden Talbewohner*innen kamen für ein paar Jahre mehr als 3.000 Arbeiter*innen hinzu, die den Ort auch sozial stark veränderten. Panoramastraße, Seilbahn, Bildungsinfrastruktur, Tourismus – all das waren Folgen des Kraftwerksbaus. Wie sieht es aber heute aus, mit der Zukunft der Wasserkraft? Zu dieser zentralen Frage lassen die Ausstellungsmacher*innen auf einer Videowand viele Stimmen zu Wort kommen, ohne polemisch Stellung zu beziehen: Aktivist*innen gegen die aktuell diskutierten Verbauungspläne des benachbarten Platzertals und Klimaforscher*innen wie Helga Kromp-Kolb ebenso wie den Bürgermeister von Feichten oder den Stabsstellenleiter der TIWAG.
An dieser Stelle geht die Ausstellung in den Diskurs über, der als Vermittlungsform ohnehin am geeignetsten sei, meint Petra Paolazzi. „Wir haben der Gemeinde ein Werkzeug gegeben, mit dem sie jetzt arbeiten kann.“ Es brauche gute Vermittler*innen, begleitende Veranstaltungen, gerne auch wissenschaftliche Symposien. Die Awareness für das Klimathema sei heute viel stärker als noch vor drei Jahren zu Beginn des Projekts, das sollte man nutzen. Die Ausstellung bietet dafür die besten Voraussetzungen: Abseits von überdidaktischen hands-on Erlebnisparcours bringt sie ein großes Thema nahbar auf den buchstäblichen Talboden.
Ausstellung „Mit aller Kraft. Klima, Gletscher, Kaunertal“:
Idee und Konzeption: Petra Paolazzi, Niko Hofinger | Architektur: columbosnext (Walter Prenner, Verena Rauch, Jonathan Raphael Hanny, Jakob Breitenlechner, Lino Lanzmaier) | Ausstellungsgrafik, Infografiken: atelier stecher (Roland Stecher) | Ausstellungstexte: Esther Pirchner | Künstlerische Beiträge: Christine Prantauer: Transition:vom Übergang, Manuela Kerer: Gletscherhauch
Architekturstudium in Innsbruck, Wien und den USA. Lebt und arbeitet in Innsbruck als freie Journalistin, Kuratorin und Vermittlerin an der Schnittstelle von Kultur, Architektur, Design und Stadtraum. Leitet seit 2019 WEI SRAUM Designforum Tirol.