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Als ob wir uns immer in Bewegung befinden und auf der Suche sind

Der Onlineauftritt der klimakultur.tirol verdankt sein neues Erscheinungsbild der Genossenschaft Lungomare.

Lungomare wurde 2003 als Kulturverein von Patrizia Bertolini, Angelika Burtscher, Manuela Demattio, Roberto Gigliotti, Paulpeter Hofer, Brita Köhler, Daniele Lupo und Josef Rainer gegründet. Gemeinsam hatten Angelika Burtscher und Daniele Lupo die künstlerische Leitung bis 2014 inne, von 2014 bis 2020 leiteten sie mit Lisa Mazza und Roberto Gigliotti den Kulturverein. 2021 wurde die heutige Genossenschaft Lungomare, eine Plattform für kulturelle Produktion und Gestaltung, von Angelika Burtscher, Frida Carrazato, Daniele Lupo, Eva Mair und Georg Zeller gegründet.

 

Der nachfolgende Text stammt aus dem Lesebuch AS IF – 16 Dialogues on Sheep, Black Holes, and Movement, welches 2023, nach 20-jähriger Tätigkeit von Lungomare, entstand. Sechzehn Wegbegleiter*innen wurden eingeladen, dafür jeweils einen Dialog zu initiieren. Das Lesebuch versammelt eine Vielzahl von Trialogen, Szenografien, Briefwechsel, Glossaren von insgesamt 52 Autor*innen, um angesammeltes und neues Wissen in Beziehung zu setzen und neue Verbindungen zwischen Praxen und Menschen entstehen zu lassen.

 

2022 hat Lungomare die Kampagne #etwaslaeuftfalsch umgesetzt (siehe Fotos). Das Projekt reflektiert die Hintergründe der Gewaltverbrechen an Frauen in der Gesellschaft und beleuchtet das Thema der Femizide aus künstlerischer und aktivistischer Sicht.

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In „Als ob wir uns immer in Bewegung befinden und auf der Suche sind“ stellen Angelika Burtscher und Daniele Lupo das Wesen, die Anliegen und Herangehensweisen näher vor, die Lungomare auszeichnen und bewegen. Für den Blog wurde der Text leicht überarbeitet.

ALS OB WIR UNS IMMER IN BEWEGUNG BEFINDEN UND AUF DER SUCHE SIND

 

von Angelika Burtscher und Daniele Lupo

 

Wir wandern, setzen einen Fuß vor den anderen, suchen den Kontakt mit dem Erdboden und schauen auf das zurück, was hinter uns liegt, und auf das, was noch vor uns ist. Der Horizont wird unscharf, wir sehen Umrisse, aber ein klares Bild und genaue Zusammenhänge bilden sich nicht ab. Hinter uns liegt eine hügelige Landschaft, nicht geradlinig, sondern vielmehr voller scharfer Kurven und sich kreuzender Linien. Nicht immer erinnern wir uns daran, wie die Wege verlaufen sind. Es kommt uns manchmal vor, wir bleiben stehen, drehen uns im Kreis und unterscheiden plötzlich das Vorne nicht mehr vom Hinten, alles verschwimmt.

 

Von welchem Wir sprechen diese Zeilen? Von einem Wir, das sich entlang des Weges bildet und einen Teil des Weges gemeinsam geht? Oder einem Wir auf der Suche nach der unbeschönigten Narration von Geschichte, eines, das Machtverhältnisse hinterfragt und neu denkt? Dürfen wir überhaupt von einem Wir sprechen, ohne darüber nachzudenken, wer für wen ein Wir bestimmt? Wann definiert ein Wir eine Grenze und wann eine Möglichkeit?

 

Wandern wir noch weiter. Wir begegnen einer Vielzahl von Menschen, tauschen Blicke aus, die unsicher und gleichzeitig neugierig sind. Erfüllt davon, wie viele Augenpaare es gibt und wie jeder Blick unterschiedliche Erfahrungen und (Ge)Schichten verbirgt, führen wir unseren Weg fort. Welchen Platz nimmt jede Geschichte und jedes Individuum ein und welche Beziehungen ergeben sich daraus? Wir bewegen uns balancierend fort, der Raum wird knapper und Balancierende werden zu Seiltanzenden. Wir schlängeln uns aneinander vorbei. Erfüllt vom Wunsch, aus dem Seil ein Netz zu flechten und Platz zu schaffen, um mit dem Gegenüber in Kontakt zu kommen und das, was um uns ist, wahrzunehmen, suchen wir den Horizont. Und so schnell gelangen wir in das als ob (As If), in das Nachdenken über Möglichkeiten und in eine produktive Fiktion.

 

Das Gehen, das Wandern, die Perspektiven, das Schauen und Staunen, die Wahrnehmung, die Unsicherheit sowie das Unscharfe sind eng mit dem Namen Lungomare verbunden.

Genauso die Auseinandersetzung mit dem Wir und damit, welche sozialen Beziehungen unsere Arbeit herstellt. Lungomare beschreibt gleichzeitig eine Pluralität, die Geografien und Orte innehaben. In fast jeder Stadt am Meer befindet sich ein Wegweiser, der an ein Lungomare, also einen Weg führt, der das Meer säumt und der zum Flanieren, einander Treffen und Träumen einlädt. Der Name wird dabei zu einer Metapher für die Bewegung und beschreibt einen Ort, an dem sich Menschen mit ihren Ideen, Wünschen, Vorstellungen und persönlichen Geschichten begegnen – dort tauschen sie sich aus, verweilen und verabreden sich für den nächsten Tag.

 

2003 haben wir einem Lungomare in Bozen, Norditalien, an der Grenze zwischen Italien und Österreich, einen präzisen Ort und Kontext gegeben. Dort werden Geografien übereinandergelegt, ausgedehnt, klare Grenzlinien verwischt, um neuen Beziehungen und Narrationen Platz zu geben. Dieses Lungomare möchte auch ein Ort sein des „Dazwischen, das vereint und trennt, als Passage, die Grenzen unterläuft, jede Spur von Aneignung auslöscht und die Erinnerung einer anderen Art von Klandestinität – von Opposition, Widerstand und Kämpfen – bewahrt. Klandestinität nicht etwa als Stigma, sondern als existenzielle Entscheidung. Der Seeweg zeigt den Umsturz der Ordnung an, die Herausforderung des Anderen und des Anderswo.“1

 

Seit Beginn der kulturellen und künstlerischen Praxis von Lungomare spielen geografische Bezugspunkte und biografische Geschichten von Menschen eine zentrale Rolle, sie eröffnen kontinuierlich Möglichkeitsräume und inspirieren seit jeher die Projekte von Lungomare. Das Nachdenken über den politischen und sozialen Raum der Stadt und der Landschaft, das Infragestellen seiner Nutzungsbedingungen, das Verhandeln von Verteilungsfragen und von vorherrschenden Machtbeziehungen sind wiederkehrende Themen in der Arbeit der Kulturplattform. Dabei möchten wir ein Begehren miteinander teilen, ihm Platz geben, uns vernetzen und das Kollektive zu einer Handlungsform und zu einem Prozess werden lassen. Anlehnend an die Idee einer langsamen, aber aufmerksamen Wanderung, bei der der Blick stets auf das Umfeld und die Menschen in ihrem Kontext gerichtet bleibt, entsteht so eine situative, transdisziplinäre und transformative Kulturpraxis.

 

Lungomare agiert in dieser erweiterten Praxis, in der unterschiedliche Arbeitsfelder und Disziplinen sich kontinuierlich austauschen, um Methoden, Sprachen und Erfahrungen zu erarbeiten und um auf verwebte Beziehungen zwischen Orten, Menschen und ihren Geschichten zu reagieren. Im Austausch lernen wir voneinander. Dort verändert sich das, was wir sehen und begreifen, und wir haben die Möglichkeit, Beziehungen zwischen Menschen, Spezies und Räumen neu zu denken. Irit Rogoff unterstreicht das Potential einer erweiterten Praxis, sich mit anderen Wissensformen und -bereichen auszutauschen und schreibt gleich zu Beginn ihres Textes „The Expanding Field“ folgenden Satz: „We work in an expanding field, in which all definitions of practices, their supports and their institutional frameworks have shifted and blurred.“2 Dabei geht es nicht darum, seine eigenen Errungenschaften, Paradigmen, sein eigenes Wissen und das, was erreicht wurde, zu zelebrieren, und auch nicht auf konkurrierende Interessen aufzubauen, sondern vielmehr fehlendes Wissen in Beziehung zu setzen.

 

„Mein Interesse gilt nicht der Frage ‘was ist Kunst’, sondern mehr der Frage ‘wo ist Kunst’. Es geht dabei nicht um den Ursprung und die Essenz der Kunst, weder darum, dass Kunst sich selbst reflektiert, es geht vielmehr um die Kunst in der Gesellschaft und wie sie sich mit der Außenwelt in Beziehung setzt.“3 Dieses Zitat fängt die Arbeitsweise und das Wesen von Lungomare ein und die Suche danach, welche Resonanz, welche Klangkörper und Schallwellen Kunst und Gestaltung erzeugen.

Lungomare setzt sich mit seiner künstlerischen und gestalterischen Praxis mit der Welt in Verbindung, hinterfragt Gegebenes, schafft Brücken und verhandelt Gemeinsamkeiten und Differenzen.

Die Arbeit wird zu einem Prozess einer fantasievollen, als auch verantwortungsbewussten Art und Weise, sich mit der Gesellschaft und ihrem Umfeld auseinanderzusetzen. […]

 

Gemeinsam mit den Wegbegleiter*innen haben wir in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Projekten realisiert und Methoden, Bedürfnisse, Wünsche und auch gemeinsame Kämpfe geteilt. […] Die vier Kapitel des Buches „AS IF – 16 Dialogues on Sheep, Black Holes and Movement“ spiegeln die Praxis von Lungomare wider: Die Auseinandersetzung mit einem Kontext und somit das Verortet sein und das vielschichtige Lesen dieses Kontextes. Der öffentliche Raum als Ankerpunkt und die Möglichkeit und das Potential eines gemeinsamen Raumes, der zum Verhandlungsort wird. Das Teilen von Wissen und somit das vielstimmige und transdisziplinäre Erarbeiten von Inhalten. Die Frage nach Zugehörigkeit und die Reflektion darüber, was Grenzen, Grenzüberschreitungen, Herkunft, Identitäten und die Praxis einer radikalen Gastfreundschaft bedeuten.

 

„AS IF – 16 Dialogues on Sheep, Black Holes and Movement“ setzt damit die Wanderung fort und erörtert aktuelle Fragen unserer Gegenwart und Zukunft. Das Buch entstand aus dem Wunsch heraus, andere Wirklichkeiten, Blickwinkel und Ideen in Dialog zu bringen, voneinander zu lernen und Neues zu erfahren. Dabei vereint alle Autor*innen der Wunsch, die Zukunft radikal neu zu denken und die Geschichte, die (kulturellen) Geografien, die Menschen und die Natur in Beziehung zueinander zu setzen. Das Lesebuch kreist um Orte, die nicht isoliert betrachtet werden können, sondern in Zusammenhang und gegenseitiger Abhängigkeit stehen; um ein Hier das Dort Ableger schafft. Die Autor*innen denken über die bevorstehenden und dringend notwendigen Veränderungen unserer Städte, ihrer Architektur, über Landschaft und das Zusammenleben in diesem komplexen Gefüge nach. Und darüber, wie Städte und Dörfer, der Berg und das Tal miteinander verwebt sind.

Sie setzen uns Menschen in eine neue Beziehung mit der Natur und reflektieren sowohl über ökologische als auch menschliche Krisen.

Welche Rolle spielen die Bäume, die Brachen, die Heterogenität, das Zuhören und das Tanzen, wenn wir über Gemeinsamkeiten nachdenken? Die Autor*innen fragen in ihren Dialogen auch danach, aus welcher Perspektive wir Worte und Sprache und ganze Realitäten betrachten, und fordern auf, Verantwortung zu übernehmen, um einer vielfältigen Gesellschaft und allen Spezies einen Platz einzuräumen. Auf der einen Seite sind da die Menschen, ihre Geschichte, ihre Träume, ihre Ideen, ihre Sprachen, ihre Vorstellungen und auf der anderen Seite oft Antworten, die Menschen ausgrenzen, kategorisieren und zum Schweigen bringen. Die Dialoge fordern eine radikale Offenheit und ein radikales Umdenken und sehen ein Potenzial darin, dass künstlerische Prozesse eine Resonanz erzeugen und ein Handeln und Sein hervorbringen können, das verbindet, heilt, öffnet und die Menschen zu sozialen Visionen bewegt. Gemeinsam begeben sich die Autor*innen auf die Suche: auf die Suche zueinander und auf die Suche nach neuen Verhältnissen, Sprachen, Geschichtsverständnissen und Handlungsweisen. In diesem Lesebuch sollen Unterschiede und Grenzen zu Brücken, und Bewegungen zu Möglichkeiten werden, so wie Audre Lourde sagt: „It is within our differences that we are both most powerful and most vulnerable, and some of the most difficult tasks of our lives are the claiming of differences and learning to use those differences for bridges rather than as barriers between us.“4

 

Und wir wandern weiter, auf möglichst vielen Brücken, tragen neue Erfahrungen im Gepäck, sehen immer schärfer und erkennen die Umrisse vor uns. Das, was wir sehen, sind die unzähligen Verbindungen, vor uns liegt ein Horizont, der es möglich macht, Dinge nicht mehr isoliert, sondern umfassender wahrzunehmen. Und das Netz wird kontinuierlich von vielen Händen feinmaschiger geflochten. Es ist, als ob (as if) es nicht mehr möglich wäre, durch die Maschen hindurchzufallen.

Quellen

1 Donatella Di Cesare, Philosophie der Migration, Matthes & Seiz Berlin 2021.

2 Irit Rogoff, The Expanding Field, in: Jean-Paul Martinon, The Curatorial. A philosophy of Curating, London 2013.

3 Transkript eines Gesprächs zwischen Philip Ursprung und Stéphane Verlet-Bottéro für das Projekt OVERTIME Papers, herausgegeben von Stéphane Verlet-Bottéro und Sophie Krier, kuratiert und produziert von Lungomare (Angelika Burtscher Roberto Gigliotti, Daniele Lupo, Lisa Mazza).

4 Audre Lorde, Difference and Survival: An Address at Hunter College, Blu Cactus Press, 2023.

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Das Buch „AS IF – 16 Dialogues on Sheep, Black Holes and Movement“ ist auf Englisch bei Spector Books erschienen und hier erhältlich. Die Special Edition wurde von Martino Gamper gestaltet und kann nur direkt über Lungomare bestellt werden.

Danke!

Wir möchten an dieser Stelle unsere Freude mit unserer neuen visuellen Identität ausdrücken, die aus alten Mustern ausbricht und gleichzeitig unsere Inhalte klar und auf ansprechende Weise darstellt, während sie mit fließender Leichtigkeit Klimakultur an der Schnittstelle zwischen Inspiration und Information erfahrbar macht.

Veranstaltungstipp

Am 14.2.2024 sind Angelika Burtscher und Daniele Lupo für einen Vortrag im WEI SRAUM. Designforum Tirol zu Gast.

AS IF © Elisa Cappellari

AS IF, Special Edition by Martino Gamper © Elisa Cappellari

Angelika Burtscher & Daniele Lupo, Artistic Directors, 2023 © Elisa Cappellari

Lungomare 20, 2023 © Elisa Cappellari

#etwaslaeuftfalsch © Daniel Jarosch