Hoch über dem Inn, gleich hinter der österreichisch-schweizerischen Grenze befindet sich am Berghang im Unterengadin ein kompaktes Dorf, das gleich am Ortseingang verkündet, „eines der schönsten Schweizer Dörfer“ zu sein. Doch Schönheit ist keine Lebensgrundlage – nur mehr rund die Hälfte der Häuser in Tschlin ist ganzjährig bewohnt. Umso bemerkenswerter, dass hier seit einigen Jahren eine äußerst lebendige Kulturentwicklung stattfindet. Sie geht von einem der temporär bewohnten Häuser aus.
Gemeinsam eine Zukunft gestalten
Der in Amsterdam tätige und lehrende Künstler Curdin Tones betreibt seit 2016 in Tschlin die Kulturinitiative SOMALGORS74, die auf kontextsensible Projekte setzt. Seine Kindheit verbrachte Curdin Tones nicht nur in der Region Zürich, sondern auch bei seiner Verwandtschaft im Bergdorf Tschlin. Er hat dieses Pendeln zwischen Dorf- und Stadtleben bis heute beibehalten. Doch die Covid-Pandemie führt ebenso wie die Klima- und Energiekrise dazu, dass er diese Lebensform in Frage stellt.
Ein Interview von Sonja Prieth.
Als Kind sind Sie in den Bauernhäusern in Tschlin ein- und ausgegangen und haben die Sommer in der Holzhütte verbracht, die Ihr Urgroßvater auf 2000 m Seehöhe gebaut hat. Heute besitzen Sie selbst ein altes Haus im Dorf, in dem Menschen ein- und ausgehen.
Ja, dieses Haus hat für mich und meine Arbeit vielfältige Bedeutung. Es gibt mir eine gewisse Autonomie, weil es mir ermöglicht, präsent zu sein und Kulturprojekte unabhängig zu realisieren, dabei aber auch in Verbundenheit mit dem Dorf zu leben. Diese ständige Dynamik zwischen Autonomie und Kooperation ist sehr wichtig für die nachhaltige Wirksamkeit einer Kulturinitiative.
SOMALGORS74 ist die Adresse Ihres Hauses und zugleich der Name der Kulturinitiative, die Sie hier betreiben.
Es ist eine sehr klassische Form, dass die Adresse zum Titel der künstlerischen Initiative wird. In diese Tradition von kultureller Selbstorganisation in einem sozialen Gefüge wollte ich mich einreihen.
Stichwort Tradition: Inwiefern spielen die Traditionen des Dorfes Tschlin oder der Region eine Rolle in Ihren Projekten?
Die Arbeiten knüpfen oft an traditionellen sozialen Gegebenheiten an, sollen aber den Blick erweitern. Es geht nicht darum, einfach nostalgisch zurückzuschauen. Vielmehr möchte ich eine Dynamik erzeugen und Fragen stellen, die der Gemeinschaft helfen können, vorwärts zu schauen. Das öffentliche Brunnenbad ist ein gutes Beispiel dafür. Ich habe als Kind noch miterlebt, dass morgens alle Tiere aus allen Ställen am Dorfbrunnen getränkt wurden. Brunnen hatten eine sehr wichtige soziale Funktion. Man wohnte in einem Brunnenquartier, war turnusmäßig für die Reinigung zuständig und es gab genaue Regeln, wann man am Brunnen die Wäsche waschen durfte und anderes. All diese Funktionen hat der Brunnen heute nicht mehr. Ich wollte ihm seine Rolle als Begegnungsort zurückgeben.
Sie haben das sogar gesteigert, indem Sie nicht nur Begegnungen am Brunnen, sondern auch im Brunnen ermöglicht haben.
Ja, ich habe im Jahr 2018 ein paar Leute aus dem Dorf eingeladen, darüber zu diskutieren, wie man die soziale Komponente eines Dorfbrunnens thematisieren könnte. Gemeinsam haben wir das Konzept für das öffentliche Brunnenbad entwickelt – den Brunnen also an manchen Tagen in einen beheizten Whirlpool zu verwandeln und das Dorf zum Brunnenbad einzuladen. Solche gemeinsamen Entwicklungsprozesse sind mir wichtig. Ich möchte nicht der Entertainer sein, der hier mit fertigen Ideen aufkreuzt und sagt, ich bringe jetzt Kultur ins Dorf. Kultur entsteht zusammen.
„Die magischsten Momente haben wir erlebt, wenn es ganz still war und man nur das Knistern des Feuers und das Plätschern des Wassers gehört hat.“
— Curdin Tones
Wie reagiert denn das Dorf auf den Künstler, der nicht nur hier im Bergdorf, sondern auch in der Großstadt Amsterdam wohnt, sich hier aber sehr aktiv ins öffentliche Leben einbringt?
Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt welche, die es super finden, einige ignorieren meine Arbeit, mit anderen habe ich Diskussionen über mein Engagement: Warum mache ich das für diese Gemeinschaft? Und warum finde ich, dass auch gerade die nichtharmonischen Prozesse wichtig sind? Da gibt es viel Stoff zum Diskutieren, und das finde ich gut.
Harmonisches Zusammenleben ist in einem kleinen Dorf naturgemäß ein zentrales Bedürfnis. Sie erlauben sich, diese Harmonie in Frage zu stellen?
Wenn ich etwas mit meinen Projekten bewirken möchte, dann ist das, dass die Leute vielleicht weniger Angst haben vor Diversität oder vor anderen, neuen Dingen. Dass Neues auch bereichernd sein kann, nicht in einem belehrenden Sinn, aber einfach durch die Reibung. Ich habe an vielen Orten der Welt dieses Bedürfnis nach harmonischem Zusammensein beobachtet, das auch lähmend sein kann. Und ich glaube, wir würden viel besser zusammenleben, wenn wir miteinander besser uneins sein könnten. Deshalb interessiere ich mich besonders für Formen von Partizipation, die Teilhabe auf sehr unterschiedliche Arten ermöglichen.
Neben dieser diskursiven Komponente spielt auch die Natur eine große Rolle in Ihren Projekten. Das „Archiv der Alpinen Geruchserinnerungen“ soll vermitteln, wie Gerüche uns mit der alpinen Kultur und Landschaft verbinden. Die Workshops „Immer der Nase nach“ sind ebenso darauf ausgerichtet, die Sensibilität für die alpine Umgebung zu stärken. Was ist Ihnen daran wichtig?
Als Künstler bin ich daran interessiert, kontextsensible Projekte zu entwickeln, die sich auf vielfältige Weise in ihre soziokulturelle Umgebung einschreiben. Dazu bediene ich mich der Mittel und Sprachen von Kunst und Design. Die Koexistenz mit der Natur spielt im alpinen Raum eine zentrale Rolle, die Natur bietet daher ein zeitgemäßes Habitat, um kulturelle Entwicklungen zu thematisieren. Es geht mir weniger darum, gemeinsam über die Blumen oder die Landschaft zu staunen. Vielmehr möchte ich den Raum schaffen, um eine vertiefte Beziehung zu unserer Umgebung zu entwickeln.
Diese starke Verbindung zwischen Ihrer Kunst und der alpinen Umgebung, in der sie entsteht, ist in Zeiten der Klimakatastrophe natürlich auch ein Statement. Wie schätzen Sie die Einflussmöglichkeiten der Kunst auf den Umgang mit der ökologischen Krise ein?
Ich bin nicht sicher, ob Kunst das Bewusstsein für die Krise nachhaltig verstärken kann. Natürlich kann Kunst die Klimakatastrophe thematisieren. Aber manchmal glaube ich, das Einzige, was helfen kann, ist, dass die Leute richtig Angst bekommen vor dem, was da auf uns zukommt – wenn sie den Klimawandel im täglichen Leben spüren. Als Künstler*in muss man sich jedoch schon fragen, welche Praxis angesichts der drohenden Krisen noch sinnvoll ist. Will man zum Beispiel im internationalen Jetset- und Residency-Hopping mitmachen und ständig von hier nach da fliegen? Welche Materialien will man verwenden und welche Transportwege sind damit verbunden? Kann man es noch verantworten, Aluminiumskulpturen in China produzieren zu lassen?
Würden Sie von einer Verantwortung sprechen, die Künstler*innen bei der Bekämpfung des Klimawandels haben und wahrnehmen sollten? Wenn ja, worin könnte diese liegen?
Wir alle haben Verantwortung. Das betrifft nicht nur Künstler*innen. In der Schweizer Musikszene gibt es eine Bewegung „Music declares emergency“, die mich beeindruckt. Für mich persönlich ist momentan die Antwort: Weniger fliegen sowie lokaler, sozialer und situativer arbeiten. Daher plane ich, weniger zwischen Amsterdam und Tschlin hin- und herzureisen. Doch das ist derzeit noch schwierig in einer Kunstwelt, in welcher der Markt und die Reputation von internationaler Vernetzung abhängig sind. Nachhaltiges Arbeiten geht aber über den ökologischen Aspekt hinaus, daher richte ich in meiner Praxis auch einen Fokus auf das Zusammenleben und auf den Umgang mit persönlicher Energie und sozialen Ressourcen. Die Frage, wie wir gemeinsam eine Zukunft gestalten können, motiviert mich dabei, mich als Künstler lokal zu engagieren. Vielleicht werden solche Formen kulturellen Arbeitens in Zukunft vermehrt als Statement gesehen und wertgeschätzt.
lebt in Innsbruck, arbeitet hauptberuflich als Supervisorin/Coach und ist seit vielen Jahren als Autorin, Lektorin und Gestalterin von Radiobeiträgen tätig. Sie schreibt Beiträge für Magazine, Sammelbände und Kataloge und gestaltet Hörbeiträge für Ausstellungen, Kongresse und andere Gelegenheiten. Als Sozialwissenschafterin und Kulturarbeiterin beschäftigt sie sich u. a. mit Care-Arbeit. Die Förderung von sozialer Gerechtigkeit ist aus ihrer Sicht zentral für die Lösung der brennenden Zukunftsfragen, insbesondere auch für den Klimaschutz. Weitere Infos unter: www.sonjaprieth.at, www.wortklangwelt.com, www.sorgenetz.at